Behütungswahn: Freilandkinder ohne Gluckhennen

(c) AP (Michael Probst)
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Eine amerikanische Kolumnistin wurde zur Leitfigur einer Bewegung, die Kindern wieder mehr Bewegungsfreiheit einräumen will. Das „übertriebene Sicherheitsdenken“ der vergangenen Jahre soll gebremst werden. Nicht nur in den USA.

Wien/New York. Die „American Mom“ ist ein Taxi, besagt ein geflügeltes Wort in den USA. Der Alltag der typischen amerikanischen Mutter besteht darin, dass sie ihre Kinder vom Baseball zu den Pfadfindern chauffiert, vom Ballett zum Play-date, vom Nachmittagsunterricht zum Sleep-over. Es ist jedoch nicht nur der Mangel an öffentlichen Verkehrsmitteln in weiten Teilen der Vereinigten Staaten, sondern auch die tief verwurzelte Angst, den Kindern könnte etwas zustoßen, wenn sie ohne Begleitung unterwegs sind.

Allein in der U-Bahn

Lenore Skenazy jedoch, Kolumnistin der „New York Sun“, machte die Probe aufs Exempel. Sie ließ ihren neunjährigen Sohn auf dessen ausdrücklichen Wunsch in New York mit der U-Bahn allein nach Hause fahren. Ausgerüstet mit einer Fahrkarte, einem U-Bahn-Plan und ein paar Telefon-Münzen. Die Sache klappte problemlos, der Bub war begeistert.

Für Eltern in unseren Breitengraden wohl nicht weiter aufregend. Aber bei den US-Lesern stieß Skenazys Kolumne, die sie über das Abenteuer unter dem Titel „Here's your MetroCard, Kid“ schrieb, nicht auf ungeteilte Zustimmung. Es regnete heftige Kritik an dem „unverantwortlichen“ Verhalten der Mutter, aber auch stapelweise Fanpost.

„Ich war geschockt, dass meine Kolumne so viel Aufmerksamkeit erregt hat“, wundert sich Lenore Skenazy im Gespräch mit der „Presse“. „So eine U-Bahnfahrt ist doch eigentlich etwas ganz Banales.“ Vor einer Generation sei es nichts Außergewöhnliches gewesen, wenn Kinder in den Park, an den Strand gingen oder Besorgungen für die Großmutter machten.

Heute Erwachsene erinnern sich – jenseits wie diesseits des Atlantik – wehmütig daran, wie sie auf Baustellen oder Bäumen herumkletterten oder im Wald spielten, allein auf den Spielplatz gingen. Vielleicht zeugt ja noch ein ausgeschlagener Zahn oder eine Narbe davon. Diese Art „Freerange Kids“ von einst will Skenazy wieder zum Leben erwecken; der von ihr geprägte Ausdruck ist mittlerweile in aller Munde. Anscheinend spricht sie vielen amerikanischen Eltern aus der Seele. „Es gibt sichtlich eine Gegenbewegung zum Behütungswahn, das Pendel schwingt langsam wieder zurück.“

Die Idee: Die „Freilandkinder“ sollen nicht unter den Fittichen der Gluckhenne festkleben, die „Helikopter-Mütter“ aufhören, ständig über ihren Kindern zu kreisen. „Die Wahrscheinlichkeit, entführt und getötet zu werden, ist 40-mal geringer, als bei einem Autounfall ums Leben zu kommen“, sagt Skenazy, „aber keiner stellt es in Frage, die Kinder überallhin mit dem Auto zu führen.“

„Kultur des Misstrauens“

„Paranoid parents“ – so nennt man im angelsächsischen Raum übervorsichtige Eltern. Auch der britische Soziologe Frank Furedi appelliert in seinem Buch „Paranoid Parenting“ an Eltern, nicht ständig hinter ihren Kindern herzuspionieren, da sie dies in ihren Entfaltungsmöglichkeiten einschränke („Eltern-Paranoia. Warum Kinder mutige Eltern brauchen“). Er kritisiert die „Kultur der Angst und des Misstrauens“, in der fremde Erwachsene per se als Bedrohung angesehen werden.

Schon seit Jahren werden etwa Kinder in den USA dazu angehalten, wenn sie zu Halloween von Haus zu Haus ziehen, keine selbst gebackenen Kekse anzunehmen, sondern nur eingeschweißte Süßigkeiten, weil im Hausgemachten eine Rasierklinge versteckt sein könnte. Ob das tatsächlich jemals vorgekommen ist oder es sich um eine Legende handelt, weiß keiner.

Der Sicherheitswahn hat sich in den vergangenen Jahren immer mehr verschärft. Kinder werden per Handy an der Leine gehalten, mittels GPS lassen sie sich wohl auch lokalisieren. Und die Werbung verspricht Eltern amerikanischer Teenager: „Wenn Ihr Kind nicht verrät, wo es gestern Abend war, der Auto-Chip sagt es Ihnen.“ No risk. No fun?

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.05.2008)

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