Gemeinsam „isst“ die Familie stark

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Vater, Mutter, Kinder gehören an einen Tisch. Damit die kulinarische Gruppenerfahrung aber nicht mehr Schaden als Nutzen anrichtet, braucht sie Regeln. Doch die muss jede Familie für sich selbst festlegen.

Es ist 18.30 Uhr. Die Mutter hechelt aus dem Büro nach Hause, viel später als geplant, läuft noch schnell in den Supermarkt, rafft Orangensaft und mehrere Tiefkühlpizze an sich, Fertigstellung in acht Minuten garantiert. Zu Hause wartet eine hungrige und unterschiedlich grantige, weil müde Meute. Der eine will gar nichts mehr essen, der Zweite etwas anderes, die Dritte schmollt grundsätzlich und aus nicht kulinarischen Gründen. Das Ergebnis ist eines, wie es in vielen Familien immer wieder vorkommt: Jedes Mitglied wird irgendwie und irgendwo abgefüttert – in der Küche, vor dem Fernseher, im eigenen Zimmer. Hauptsache, es wird gegessen, und es geht schnell.

Aus der viel beschworenen und hoch gerühmten gemeinsamen Familienmahlzeit wurde an diesem Abend und in dieser Familie nichts. Dabei sind sich Experten einig: Eine Familie, die gemeinsam isst, ist im Normalfall eine starke Familie. Doch die Spielregeln, unter denen dieser Angelpunkt jedes Familienalltags angesichts der heutigen Arbeits- und Lebensbedingungen funktionieren kann, müssen dringend neu definiert werden.

Über die positiven Aspekte von Familienmahlzeiten kann es wenig Debatten geben: „Gemeinsame Mahlzeiten sind der Mittelpunkt des Familienlebens“, schreibt etwa die Autorin und Spezialistin für Kinderernährung Dagmar von Cramm. „Essen ist etwas sehr Symbolisches, ganz anders als ,Abfüttern‘. Es geht darum, die Familie im wahrsten Sinn des Worts zu ,nähren‘“, meint auch Familien-Coach Sandra Teml-Jetter.

Bei einer gemeinsamen Mahlzeit haben alle Familienmitglieder die Möglichkeit, sich auszutauschen und das Gemeinschaftsgefühl zu erneuern; Eltern loten die Stimmungen ihrer Kinder aus, kommunizieren aber auch miteinander; nach einem Tag, an dem jeder seinen eigenen Beschäftigungen nachgegangen ist, kann die Familie die Möglichkeit nutzen, sich zu zentrieren. Im Idealfall kommt das dabei heraus, wovon der dänische Erziehungsberater Jesper Juul träumt: „Eine gute Mahlzeit ist eine ausgewogene Mischung aus guten Speisen, Sorgfalt, Engagement, engen Bindungen, Ästhetik, einem Erlebnis der Sinne, und aus unvorhersehbaren menschlichen Gefühlen und Stimmungen.“

Nicht mit Druck und Zwang

Der Idealfall ist allerdings in vielen modernen Familien eher ein zufälliger Glückstreffer als die Regel. Um nicht unrealistischen Erwartungen hinterdreinzujagen, sollte man von solch einer „Zufälligkeit“ auch ausgehen, schlägt Teml-Jetter im Gespräch mit der „Presse“ vor. „Man sollte aus den gemeinsamen Mahlzeiten kein fixes Ritual machen, an das man sich täglich zu halten hat“, meint sie. „Denn jeder Tag ist anders. Mal kommt man später nach Hause, mal ist ein Kind krank, mal hat man etwas vor. Wichtig ist es, gerade aus diesen Situationen den Druck rauszunehmen und sie absichtslos zu gestalten.“ Diese Erkenntnis hilft auch Eltern, die mit besten Absichten leicht in eine Frustfalle tappen können: Sie strudeln sich ab, um regelmäßig feines Essen auf den Tisch zu stellen, das aber von den Kindern nicht immer im erwarteten Maß honoriert wird.

Besser sei es, bestimmte Zeiten in der Woche festzulegen, zu denen sich die gesamte Familie dem Thema „Nahrung“ widmet – und zwar von der Produktion bis zum Verzehr. Den meisten Kindern macht es Spaß, bei der Speisenauswahl, dem Einkauf, der Zubereitung des Essens und der Vorbereitung des Tisches zu helfen.

Juul rät Eltern allerdings, bei aller Sympathie für Demokratie innerhalb der Familie, auch in Sachen „Familienmahlzeit“ nicht das Heft aus der Hand zu geben. Eltern dürften Kinder zwar fragen, was sie gerne essen wollen, um damit allgemeines Interesse an deren Meinung zu bekunden. Die endgültige Entscheidung, was auf den Tisch kommt, müsse aber den Erwachsenen überlassen bleiben. Diese Führungsrolle sei Teil der elterlichen Verantwortung. Überlässt man dem Kind täglich die Entscheidung, was es essen will, sei es damit letzten Endes überfordert – und äußere diese Überforderung bald durch Quengeln.

Ebenfalls in die elterliche Verantwortung fallen laut Juul der Umgangston und das Klima, die in einer Familie herrschen – und die zeigen sich kaum irgendwo deutlicher als am Esstisch. Die gute Nachricht für Eltern ist, dass sie getrost einige Regeln aus ihrer Kindheit entrümpeln dürfen: „Beim Essen wird nicht geredet“ etwa, oder „Bevor Du nicht aufgegessen hast, gibt es keine Nachspeise.“

Individualität als Maß der Dinge

Dafür aber sind Eltern heute gefordert zu überlegen, welche Aspekte einer gemeinsamen Mahlzeit für sie Priorität haben und für die Familie stimmen. Müssen alle sitzen bleiben, bis auch der Letzte fertig ist? Oder ist es in Ordnung, dass geht, wer genug hat – vom Essen und der Gemeinschaft? Darf man sich während des Essens anderen Dingen widmen? Wobei natürlich gleiches Recht für alle gilt: also auch kein Handy für den Papa, keine Zeitung für die Mama. Wie wichtig sind Tischmanieren? Soll der Familientisch ein Ort der Entspannung oder des sozialen Lernens sein?

Während die einen Familien ihre gemeinsamen Mahlzeiten eher reglementiert angehen, fahren andere mit einem höheren Grad an Chaos ganz gut. Der springende Punkt dabei ist, dass das eine nicht schlechter ist als das andere. Wichtig ist nur, dass es der jeweiligen Familie nicht auf den Magen schlägt.

BUCHTIPP

Jesper Juul, dänischer Familien- und Erziehungsberater, versucht in seinem Buch „Was gibt's heute?“ zeitgemäße Antworten zu finden, wie Familien auch angesichts stressiger Rahmenbedingungen zur Ruhe kommen können. Der bevorzugte Ort des begeisterten Hobbykochs ist die Küche.

Als Rezept für erfolgreiche Familienmahlzeiten empfiehlt Juul Eltern, die „Lufthoheit“ über den Esstischen zu verteidigen. Sie bestimmen Regeln, Umgangston und Speisen – und orientieren sich dabei an den individuellen Bedürfnissen ihrer Familie.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.02.2009)

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