Psychologie: Zerstreut Fernsehen Kinderhirne?

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Die Wirkung des TV auf ganz kleine Konsumenten ist erstaunlich wenig erforscht, es gibt viele Hindernisse. Nun sollen Versuchsratten helfen.

Im Jahr 1998 ging Dimitri Christakis, Kinderarzt der University of Washington, in Karenz, um sich um seinen zweimonatigen Sohn zu kümmern. Es füllte ihn nicht aus, der Fernseher lief den halben Tag, das Kind sah mit – mit hoher Faszination selbst die Nachrichten –, der Vater sorgte sich, die Reizüberflutung könne der Entwicklung des Gehirns schaden. Aber die Forschung bot kaum Befunde, deshalb wertete Christakis selbst Jugendstudien aus: Kinder, die vor dem Alter von drei Jahren zwei Stunden am Tag TV konsumierten, hatten im Alter von sieben 20Prozent mehr Aufmerksamkeitsdefizite. Eine Folgestudie zeigte eine Korrelation mit Unterhaltungs-, aber keine mit Erziehungsprogrammen.

Keine intervenierende Studie weltweit

Aber eine Korrelation ist keine Kausalität, deshalb wollte Christakis eine „intervenierende Studie“ – seine früheren waren Auswertungen von Statistiken, die aus anderen Gründen geführt wurden: Er wollte 900 Kleinkinder vier Jahre lang beobachten, die eine Hälfte sollte nur (wenig) Erziehungsprogramme sehen, die andere, was immer die Eltern erlaubten. Der Antrag wurde von der US-Gesundheitsbehörde NIH abgelehnt, und es gibt laut Christakis bis heute keine solche Studie, nirgendwo auf der Erde.

Zwar bekam Christakis politische Unterstützung, ein US-Senator legte 2004 einen Gesetzentwurf zur Förderung der Erforschung des Medieneinflusses vor. Aber das Gesetz kam nie, es gab zu große Widerstände von außen; manche befürchteten eine Entmündigung der Eltern, andere Moralapostelei unter dem Deckmantel der Gesundheit. Auch in der Forschung kamen Bedenken, man sei mit gutem Grund von Menschenversuchen abgekommen. Zudem könnte man selbst Babys gar nicht so einfach von Flimmerkisten isolieren: Es gibt nicht mehr nur das TV-Gerät in der guten Stube, die Welt ist voll mit Bildschirmen. Schließlich kommt beim TV-Konsum viel zusammen: weniger Bewegung, weniger Schlaf, weniger Sozialkontak –, es ist schwer auseinanderzuhalten, was die Hirnentwicklung beeinflusst. Oder ob die Bilderflut süchtig macht, das ist Christakis' zweite Sorge.

Privat hat er Konsequenzen gezogen, seine Kinder durften nicht mehr vors TV (und dürfen jetzt nur beschränkt ins Internet). Und in der Forschung hofft er auf Hilfe von Ratten: Diesen Sommer beginnt er einen Versuch, der Tiere in eine hyperstimulierende Umgebung – mit rasch wechselnden Licht- und Tonreizen – bringt (Nature, 459, S.765).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.06.2009)

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