Die Eins-plus-eins-Familie

Als „kleinste Familie der Welt“ beschreibt die Journalistin Bernadette Conrad Familien mit einem Elternteil. Die meisten Alleinerzieher sind weiblich.
Als „kleinste Familie der Welt“ beschreibt die Journalistin Bernadette Conrad Familien mit einem Elternteil. Die meisten Alleinerzieher sind weiblich.Jenny Norquist/picturedesk.com
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Obwohl die Zahl der Alleinerzieher steigt, hat diese Familienrealität noch nicht den Platz in der Gesellschaft, der ihr zustünde. Das kritisiert etwa Autorin Bernadette Conrad.

Viel Platz haben sie nicht, zwei kleine Zimmer, eine Küche. Mehr an Wohnraum kann sich Martina mit ihrem Sohn nicht leisten, aber „das ist prima so“, sagt sie. Als Alleinerzieherin war das Geld oft knapp. Früher hat sie sich mit einer Nachbarin, ebenfalls alleinerziehend, zusammengetan. Die Kinder waren abwechselnd da und dort, damit beide Frauen arbeiten gehen konnten.

Dass es finanziell oft eng wird, ist einer der wenigen Faktoren, die vielen Alleinerzieherfamilien gemein sind. Sonst sind ihre Lebenssituationen sehr unterschiedlich, wie jene Geschichten zeigen, die die deutsche Journalistin Bernadette Conrad in ihrem neuen Buch „Die kleinste Familie der Welt“ beschreibt. Bei den einen besteht viel Kontakt zum anderen Elternteil (meist dem Vater, die meisten Alleinerzieher sind weiblich), bei anderen reißt er irgendwann ab. Bei vielen vertragen sich die Ex-Partner, andere liefern sich einen erbitterten Streit um das Sorgerecht.

Da gibt es aber auch Schicksale wie jenes von Patrick (45), der sich nach dem Tod seiner Frau allein um seinen Sohn Joshua kümmert. Der mit dem Verlust klarkommen musste und trotzdem und gerade deshalb ein starker Elternteil wurde. Oder Erika, die ihre Tochter als Baby mit zur Arbeit in den Frisiersalon nahm, weil es nicht anders ging. Aber ganz gut so ging. Heute ist Lucinda 15, die beiden haben ein enges Verhältnis. Liest man ihre Geschichte, würde niemand daran zweifeln, dass die beiden ein glückliches Team sind. Mutter und Tochter. Aber eine Familie? Dazu gehören doch mindestens drei. Vater, Mutter, Kind. So ist es in vielen Köpfen immer noch irgendwie verankert, auch wenn die Realität eine andere ist: Seit den 1990ern steigt die Zahl der Alleinerzieher, in Berlin etwa besteht jede dritte Familie aus einem Elternteil und Kind(ern). In Österreich machen die 296.000 Ein-Eltern-Familien 14,2 Prozent aller Familien aus. Wobei der Anteil in Wien am höchsten ist: 20,1 Prozent aller Kinder unter 15 leben hier bei einem Elternteil, der Österreich-Schnitt liegt deutlich darunter (14,5 Prozent).

Trotz dieser eindeutigen Statistiken „hat diese Familien-Realität immer noch nicht den Platz in der Gesellschaft, der ihr eigentlich zustünde“, sagt Conrad, selbst Alleinerzieherin einer heute 15-jährigen Tochter. Warum das so ist? „Letztlich ist da wohl immer noch ein hartnäckiger Konservatismus am Ruder. Viele halten eher an Idealbildern fest, anstatt sich an der Realität zu orientieren.“


Familie mit Defizit. Vielleicht aber auch, weil eine Familie mit „nur“ einem Elternteil in den Augen vieler ein Defizit zu haben scheint. Freiwillig gewählt hat diesen Weg ja kaum jemand. Defizitär, schreibt Conrad, seien aber nicht die Familien. Defizitär seien vielmehr „Verantwortung und Loyalität unserer Gesellschaft und Familienpolitik“ diesen Familien gegenüber. Damit meint Conrad etwa die Tatsache, dass Alleinerzieher in Deutschland mehr Steuern zahlen müssen als Familien mit zwei Elternteilen. Dass es oft nicht ausreichend Betreuungsmöglichkeiten gibt, sich Mütter „von ihren attraktiven Vollzeitarbeitsplätzen“ verabschieden müssen, sobald ein Kind da ist. Das trifft zwar auch Mütter in der klassischen Familienform, diese sind aber in der Regel finanziell besser abgesichert. Alleinerzieherfamilien sind auch in Österreich viel stärker von Kinder-, später aber auch von Altersarmut betroffen.

Conrads Buch ist aber, auch wenn sie nichts beschönigt an diesen kleinsten Familien der Welt, kein wehleidiges „Schaut her, wie arm wir sind“, kein Buch voller Neid oder Frust. Im Gegenteil. Conrad versucht „den Blick umzulenken“, nicht (nur) die Leidensgeschichte aufzuzeigen, sondern den Fokus auf die Kompetenzen dieser Familien zu legen. „Fast jeder kennt Alleinerzieherfamilien, aber viele haben keine Ahnung davon, wie diese ihren Alltag bewältigen.“ Viele schaffen das, das zeigen Conrads Beispiele, erstaunlich gut, trotz der Momente der Überforderung zwischen Arbeit, Erziehung, Haushalt.


Über sich hinauswachsen. „Alle Familien, die ich erlebt habe, sind kämpferisch, haben eine Entschlossenheit, das Familienleben gut zu meistern.“ Als Alleinerzieher ist man häufig auch eines: Alleinentscheider. Und das sei nicht immer leicht: für das Kind, den Alltag, ja, alles, immer allein verantwortlich zu sein. Dadurch werde man aber, sagt Conrad, kompetenter, wachse über sich hinaus. Auch die Kinder, die oft selbstständige, empathische und verantwortungsvolle Menschen seien.

Die im Buch porträtierten Familien waren allesamt sofort bereit, ihre Geschichte zu erzählen. „Ich glaube, das hängt damit zusammen, dass da auch Stolz mitschwingt: Wir kriegen das gut hin. Wir leben etwas Positives.“

Conrads Buch ist eine von mehreren Neuerscheinungen, die sich dem Thema widmen. Manche lesen sich fast als Plädoyer, andere als Ratgeber. Soeben ist auch „Stark und alleinerziehend“ erschienen. Die Autorin, Barbara Widmer, betreibt im Internet eine gleichnamige Website, auf der sie Alleinerzieher vernetzt und berät.

Denn etwas, das zeigt auch Conrads Buch, brauchen viele Alleinerzieher: Unterstützung. Sei es eine Großfamilie im Nachbardorf wie bei Friseurin Erika oder, wie bei Conrad, ein befreundetes Paar, mit dem ihre Tochter viel Zeit verbringt. Wichtige Bezugspersonen, die sich auch für das Kind verantwortlich fühlen. Oder, wie es die eingangs erwähnte Martina formuliert: „Familie ist dort, wo Leute für Kinder da sind.“

Steckbrief

Bernadette Conrad, Jahrgang 1963, ist freiberufliche Literatur- und Reisejournalistin (u. a. für „Zeit“ und „NZZ“). Nach zwei Romanen („Die vielen Leben der Paula Fox“) hat sie nun ein Buch über Alleinerzieherfamilien verfasst. Sie lebt mit ihrer 15-jährigen Tochter in Berlin.

Privat

Buchtipp

„Die kleinste Familie der Welt“ von Bernadette Conrad, btb, 17,50 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.07.2016)

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