Wunderwerkstatt Kindergarten

(c) Die Presse (Theresa Zötl)
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Einst bestand er aus Basteln und Eckerlstehen. Heute ist der Kindergarten die wohl meistbeachtete Bildungseinrichtung der westlichen Gesellschaft, mit Bildungsplänen und hohen Ansprüchen. Doch was muss er wirklich können?

Früher, viel früher, war man froh, wenn man etwas basteln durfte; wenn man hin und wieder ins Freie konnte, zum Schnurspringen oder Fangenspielen; wenn's eine Geschichte gab. Und wenn man nicht allzu lang in der Ecke stehen musste, wenn man einmal etwas ausgefressen hatte.

Heute weht ein anderer Wind – und zwar nicht nur in den Ecken, in die sich schon längst kein kleiner Sünder mehr verirrt. Wer heute vom „Kindergarten“ spricht, wird schnell mal korrigiert: „Bildungsgarten“ heißt das neue Schlagwort, das unter Pädagogen die Runde macht. Und eine klare Botschaft vermittelt: Der Kindergarten ist kein bloßer Aufbewahrungsort für Kinder unter dem Schulalter mehr. Er ist dabei, zur meistbeachteten Bildungseinrichtung der westlichen Welt zu werden. Einerseits deshalb, weil er bisher ein Schattendasein führte. Andererseits deshalb, weil endlich der Ruf der Elementarpädagogen Gehör fand, dass Kinder auch schon im Vorschulalter „hochtourige Lerner“ sind, wie dies die Kinderforscherin Donata Elschenbroich nennt (siehe Interview). Und dass, wer diese Zeit ungenützt verstreichen lässt, weder den Kindern noch der Wissensgesellschaft einen Gefallen tut. In beitragsfreien Zeiten, in denen sich jeder den Kindergarten leisten kann, kann es sich daher niemand mehr leisten, sein Kind nicht hinzuschicken.

Dornröschen erwacht. Was die Frage umso dringender macht, was der „Kindergarten Neu“ nun eigentlich leisten soll – und vor allem wie. Soll er mehr Schule sein? Vorschule? Mehr Wissen vermitteln? Naturwissenschaften und Sprachen fördern? Defizite ausgleichen? Besonders begabte Kinder fördern? Soll er sich an Kindergärten orientieren, die sich selbst als Brutstätte von Genies verstehen und ihre Schützlinge mit einem Angebot an Zusatzkursen überschwemmen? Nach Antworten wird eifrig gesucht. Die Stadt Wien hat bereits einen Bildungsplan für Kinder zwischen drei und sechs vorgelegt. Bald soll es einen geben, der auch bundesweit gilt. „Ein 30-jähriger Dornröschenschlaf ist zu Ende“, freut sich Heidemarie Lex-Nalis von der Plattform EduCare.

Diejenigen, die diese Frage am direktesten betrifft, bleiben davon höchst unbeeindruckt. Wie Max und Valentin, beide fünf, die in einem Wiener Kindergarten konzentriert an ihren „Wickie“-Bildern malen. Hin und wieder knufft Valentin Max und umgekehrt. Was ihnen besonders gut gefällt am Kindergarten? Malen. Natürlich. Marisa und Lara malen auch gern. Zufrieden hören sie in einer Kuschelecke eine Märchen-CD. „Und mir schmeckt das Essen“, sagt Marisa. Essen mag auch Harry. Und starke Ansagen. „Mir gefällt nix am Kindergarten“, meint er. „Ich hasse den Kindergarten.“ Sagt's, holt sich selbst ein Glas Wasser, stellt es feinsäuberlich dort ab, wo's hingehört, und bastelt zufrieden an seiner Papierkonstruktion weiter.

Diese fünf Kinder, ob sie den Kindergarten nun besonders mögen oder nicht, erfüllen bereits viele Qualitätskriterien des Wiener Bildungsplans: Sie haben keine Scheu, mit Fremden zu reden (soziale Kompetenz), sie drücken sich gewandt und differenziert aus (sprachliche Förderung), sie lernen gern, haben ein Faible für bildnerische Erziehung (Gestaltung), sind technikversiert – die Mädchen bedienen ihren CD-Player ohne fremde Hilfe – und akzeptieren die Verhaltensregeln der Gemeinschaft (Wasser trinken, Glas wegräumen), auch wenn sie – wie Harry – den Kindergarten angeblich „hassen“.

Ihre Eltern dürften zufrieden sein. Dass Mütter und Väter immer mehr Zeit und Sorgfalt (und seit Kurzem auch Geld) dafür aufwenden, ihre Kinder in einem möglichst guten Kindergarten unterzubringen, hat sich offenbar ausgezahlt. Was aber macht einen guten Kindergarten aus? „Die Art von Spiel, die die Neugier der Kinder altersgerecht füttert“, meint Eva Z. (38), Mutter von zwei Buben im Kindergartenalter. „Und eine Betreuung, die dem einzelnen Kind gerecht wird.“

Ein Kindergarten habe die Aufgabe, jene Dimension des Kindseins abzudecken, die man mit nur einem oder zwei Kindern zu Hause nicht gestalten könne. Er müsse weiterreichende soziale Erfahrungen vermitteln.

Von mehr Wissen und vorschul-ähnlicher Förderung hält Eva Z. hingegen nichts.

Da trifft sie sich mit den meisten Eltern von Kindergartenkindern. „Ich hätte Sorge, dass der ohnedies bestehende Konkurrenzkampf zwischen den Eltern, was ihr Kind schon alles kann, dann noch härter würde“, meint sie. „Wenn der Kindergarten schon Bildungsstätte sein soll, dann eine Herzensbildungsstätte.“

Martin (34), Vater von zwei Kindern, steht zusätzlichen Bildungsaufgaben für den Kindergarten ebenfalls skeptisch gegenüber. „Warum sollten schulische Elemente integriert werden? Was macht man dann in der Schule? Ich pfeif auf einen Bildungsplan. Mir geht's viel mehr um die menschliche Dimension.“ Um die geht es auch seiner Frau Karin. „Die Gefahr ist doch, dass der Kindergarten dann so umfassend verstanden wird, dass die Eltern verführt werden, noch mehr Aufgaben nach außen zu delegieren.“

Der Einzelne zählt. Delegieren will Magda (32) auch nicht. Aber manchmal bleibt ihr aus Zeitgründen nichts anderes übrig. Für sie müsste ein Kindergarten, der sich explizit die Bildung und Förderung der Kleinsten zum Ziel setzt, allerdings unbedingt eines leisten: individuelle Betreuung. „Eine Erzieherin muss über das Kind Bescheid wissen“, sagt sie. „Sie muss sich individuell mit jedem einzelnen Kind beschäftigen können und so die Möglichkeit bekommen, es zu fördern.“

Und genau an dieser Schlüsselkompetenz dürfte sich der Erfolg des Kindergartens Neu entscheiden. Denn der beste aller Kindergärten wird der sein, in dem die Pädagoginnen die Zeit und die Ausbildung haben, sich mit den Kindern individuell zu befassen, ihre Stärken ebenso zu erkennen wie ihre Schwächen und darüber in einem intensiven Gedankenaustausch mit den Eltern stehen. „Pädagogen müssen das Spiel der Kinder beobachten und erkennen, was ein Kind gerade braucht. Der Kindergarten darf sich nicht nur an der ganzen Gruppe orientieren, sondern auch an der einzigartigen Persönlichkeit jedes Kindes“, meint Lex-Nalis. „Man muss wissen, wofür ein Kind gerade empfänglich ist“, sagt auch Monika Riha von „Kinder in Wien“. „Unsere Kinder sind keine Gefäße, in die man einfach Wissen füllen kann.“

In Deutschland etwa, wo Friedrich Wilhelm August Fröbel 1840 den ersten „Kindergarten“ gründete, wird mittlerweile viel mit Portfolios gearbeitet, mit Bildungstagebüchern der Kinder. Darin werden nicht nur ihre Werke gesammelt, sondern auch Beobachtungen der Erzieherinnen festgehalten. Diese Tagebücher stellen ein Bildungsdokument der frühen Jahre dar.

Dafür aber braucht man Zeit. Und diese Zeit ist in Österreichs Kindergärten nach wie vor Luxus. Denn in den meisten wird der internationale Standard von sechs bis sieben Kindern pro Betreuer noch weit überschritten. 1:10 ist das weitaus gängigere Verhältnis, 1:20 nicht unmöglich.

Für Christine Grünberger, Leiterin des „Kinder in Wien“-Kindergartens in der Inneren Stadt, ist die fehlende Vorbereitungszeit der größte Mangel. „Volksschullehrer stehen rund 25 Stunden in der Woche im Kinderdienst. Kindergartenpädagogen hingegen 34 Stunden, mit nur drei Stunden Zeit für Vorbereitung.“ Von Verhältnissen wie in Südtirol, wo Kindergärtnerinnen zwei Wochen Zeit haben, sich auf den Beginn des neuen Kindergartenjahres einzustimmen, können österreichische Kolleginnen nur träumen.

Wunderinstitution. Nur wenn dieses Manko beseitigt wird, wenn Erzieherinnen auf mindestens demselben Niveau wie Volksschullehrerinnen ausgebildet und entsprechend entlohnt werden, wird der Kindergarten die Ansprüche erfüllen, die sich für ihn abzeichnen: Kinder im ganzheitlichen Sinn individuell zu fördern, ihre Lust am Lernen und Entdecken zu wecken und quasi automatisch den Erwerb von Wissen zu begünstigen, dem Bewegungsdrang von Kindern Rechnung zu tragen und die soziale Dimension nicht aus den Augen zu verlieren, die aus dem Kind ein Mitglied der Gesellschaft macht. Gelingt das, wird der Kindergarten wohl nicht nur eine Art Wunderinstitution werden, sondern auch Wunder wirken für den gesamten Bildungssektor.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.09.2009)

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