"Der Täter testet, ob er überlegen ist"

Distanz vergrößern, Gruppen bilden, Schreien üben: Wie verhält man sich in einer Konfliktsituation? Was Antigewalttrainer im Angesicht blanker Aggression raten.

Sollen besorgte Eltern ihre kleinen Mädchen nur noch mit einem Pfefferspray in der Schultasche auf den Schulweg schicken? Soll man schon kleine Buben im harten Training zu schwarz gegürteten Kampfmaschinen ausbilden, damit sie in einer brenzligen Situation den Gegner mit den richtigen Tritten und Griffen in die Flucht schlagen können?

Spricht man mit Oliver König, dann sieht der professionelle Umgang mit Gefahrensituationen doch etwas anders aus. König, er ist Leiter des österreichischen WingTsun-Verbandes, hat viele Jahre Erfahrung mit Gewaltpräventionsprogrammen. WingTsun ist eine chinesische Kampfsportart, die vor 250 Jahren von einer Frau entwickelt wurde. Sie setzt auf Defensive – und will dem Gegner durch die richtigen Bewegungen den Wind aus den Segeln nehmen. Elemente daraus fließen in das Gewaltpräventionsprogramm ein, das in Österreich bereits an über 100 Schulen, Kindergärten und Jugendeinrichtungen abgehalten wurde.

Mit Kampfkunst gegen Gewalt? „Anfangs sind speziell die Lehrer skeptisch, ob Kampfkunst der richtige Weg ist, um Gewalt zu verhindern“, erklärt König. „Wenn wir dann unser System erklären, stoßen wir schnell auf Begeisterung, weil klar wird, dass Selbstbewusstsein nur durch Sicherheit entstehen kann.“ Oberstes Ziel der Kurse ist: Aus einer Gefahrensituation herauszukommen, ohne Gewalt anzuwenden. Gearbeitet wird mit Rollenspielen, in denen das richtige Verhalten in einem Konfliktfall geübt wird.


Selbstsicherheit ist Trumpf. Dabei werden Noten vergeben: Die Schulnote sechs steht für das Worst-Case-Szenario – wenn das Opfer völlig verängstigt und wehrlos gegenüber Angriffen ist. Besser ist, es gar nicht erst so weit kommen zu lassen, indem man die Situation direkt im Ansatz löst und Schubs-, Greif- oder Schlagversuche „befriedigend“ im Ansatz kontert. „Gut“ ist allerdings nur, wer ganz ohne Kampftechniken eine Bedrohung vereitelt, stattdessen die Körpersprache nutzt und den Angreifer im Gespräch von seinem Vorhaben abbringt. Kinder üben in den Kursen, „Einserkandidaten“ zu werden, die allein durch selbstsicheres Auftreten einen potenziellen Angreifer seine böse Absicht vergessen lassen.

Denn die Vorgangsweise des Täters ist immer recht ähnlich, sagt König. Er nennt das „Ritualverhalten“ – der Begriff stammt aus der Psychologie und beschreibt, dass Konfliktsituationen im Allgemeinen nach einer bestimmten Logik verlaufen: „Der Täter sucht ein Opfer, und das Opfer begibt sich in die Opferrolle – oder eben nicht“, erklärt der Trainer. „Der Täter will austesten, ob er überlegen ist.“

Was der Einzelne als überfordernde Situation erleben kann, verläuft laut König stets so: Der Täter nimmt Blickkontakt auf, versucht, die Distanz zu verkürzen, es folgen beleidigende Rhetorik und später Handgreiflichkeiten. Menschen, die das wissen, können die Logik der Gewalt frühzeitig erkennen und stoppen.

Sollte man mit einer Situation überfordert sein, empfiehlt der Trainer, andere Menschen in der Umgebung einzubeziehen – anstatt sich selbst in allzu große Gefahr zu bringen. „Das wirkt eigentlich immer“, sagt König. „Ein Täter verprügelt vielleicht einen Menschen, aber nicht 15 Personen.“

Sicherer Schulweg. Das Wissen um die berühmten „Kleinigkeiten“ entscheidet in brenzligen Situationen also oft über den Ausgang. Und viele Verhaltenstipps sind recht einfach zu beherzigen – auch, was einen sicheren Schulweg von Kindern betrifft, ganz ohne Pfefferspray: Eltern sollten einen Schulweg wählen, den viele Passanten nutzen; bei einem gemeinsamen Spaziergang sind mögliche Fluchtmöglichkeiten – etwa Geschäfte – abzuklären. Außerdem müssen Kinder lernen, in einer Konfliktsituation Passanten um Hilfe zu bitten.

Und noch etwas hilft in brenzligen Situationen: laut zu schreien. König: „Das sollten Eltern gemeinsam mit den Kindern üben.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.10.2009)

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