Royston Maldoom: "Ohne Disziplin überlebt man nicht"

(c) AP (Lilli Strauss)
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ist Choreograf. Seit er 250 Berliner Jugendliche zum Tanzen gebracht hat, ist er auch Erziehungsexperte. Denn sein System hat sie Disziplin gelehrt und ihren Selbstwert gesteigert.

Sie waren an einem ganz berühmten Projekt beteiligt: an der Aufführung von Igor Strawinskis Ballett „Le sacre du printemps“ mit Sir Simon Rattle und 250 Berliner Kindern und Jugendlichen. Zu diesem Projekt gab es auch einen preisgekrönten Dokumentarfilm, „Rhythm is it“. In diesem Film sagen Sie einmal: „Ihr könnt euer Leben in einer Tanzstunde ändern.“ Ist das geschehen?

Royston Maldoom: Was ich versucht habe, den Jugendlichen zu sagen, war: „Nicht nur in einer Tanzstunde, sondern in jedem Augenblick, in dem ihr an euch glaubt, könnt ihr euer Leben ändern.“ Das gilt nicht nur fürs Tanzen. Ich wollte ihnen sagen: „Seid wachsam, genau in dieser Tanzstunde könnte es auch für euch den einen Augenblick der Transformation geben.“

Und ich kenne einige, für die sich anschließend sehr viel geändert hat. Der eine hatte plötzlich das Selbstvertrauen zu studieren; ein anderer, der davor schrecklich unter seiner Schüchternheit gelitten hatte, konnte Beziehungen zu anderen Menschen eingehen. Ein junges Mädchen schaffte es, von zu Hause wegzugehen, Kinder zu bekommen – und sich mit ihren Eltern auszusöhnen. Andere junge Leute sind beim Tanz geblieben.

Brauchen junge Menschen heute mehr Ermutigung? Sie haben zwar mehr Möglichkeiten denn je, scheinen aber gleichzeitig auch viel verunsicherter und planloser.

Junge Leute verlassen sich heutzutage immer mehr auf externe Stimuli. Sie haben keine Zeit für sich selbst, um sich mit ihrer inneren Landschaft zu beschäftigen und zu erkennen, wer sie eigentlich sind: emotional, spirituell, physisch. Die Fähigkeit, sich auf sich selbst zu konzentrieren, ohne 24 Stunden am Tag Außenreize zu erleben, geht zunehmend verloren. Die vielen Vorteile moderner Kommunikationstechnologien haben einen Nachteil: Sie haben junge Menschen von ihrem inneren Kern entfernt. Die haben sehr wenig Zeit, still zu sein, sehr wenig Zeit, gelangweilt zu sein, und sehr wenig Zeit, über ihre Erfahrungen nachzudenken. Das wird vor allem im urbanen Umfeld immer schlimmer. Dazu kommt, dass das persönliche Image zunehmend vom Besitz bestimmt wird. Das versuche ich umzudrehen: „Was wirklich zählt, ist, wer ihr seid. Ihr habt die Wahl, was ihr wollt und was nicht. Werdet kein passives Konsumopfer!“

Sie betonen immer die Bedeutung von „Fokus“. Viele haben das als „Disziplin“ übersetzt – und als solches hat es auch für einige Aufregung gesorgt. Was genau ist „Fokus“? Konzentration? Selbstdisziplin?

Es ist Fokus in dem Sinn, wie man eine Kamera auf ein bestimmtes Bild richtet. Diese Kamera ist nur auf sich selbst und nur auf diesen einen Moment konzentriert, in dem man sich gerade befindet. Das ist echte Disziplin. Viele Leute haben sich über diesen Begriff sehr aufgeregt. Lehrer, Eltern oder Beobachter finden das teilweise richtig besorgniserregend.

Und was haben die jungen Leute gesagt?

Die haben gesagt: „Aber nein, so ist Royston eben, besonders wenn er in Fahrt kommt.“ Die jungen Menschen selbst bleiben da gelassen – vor allem, wenn sie sich an mich gewöhnt haben. Nach der Filmpremiere in Berlin wurden Jugendliche gefragt: „Was ist der Unterschied zwischen der Schule und der Arbeit mit Royston?“ Da sagten sie: „In der Schule dient Disziplin der Bestrafung; Royston aber bringt uns damit dazu, Dinge für uns selbst zu tun.“ Bei mir gibt es nicht einfach Disziplin um der Disziplin willen. Ich erkläre hundert Mal, was ich will und warum, bis sich die Kinder diese Einstellung zu eigen machen. Und dann wird Disziplin zur Selbstdisziplin.

Von dieser „guten Disziplin“ gibt es aber nicht genug, weil sie offenbar ziemlich zeitaufwendig und anstrengend ist.

Ich finde, dass wir es uns in der Erziehung und im Bildungssystem oft zu leicht machen. Wir erfinden Entschuldigungen und ermutigen die Kinder nicht, diese Idee der Disziplin zu verstehen. Also gehen sie von der Schule ab, finden einen Job – und sind ihn eine Woche später wieder los. Weil sie in der Früh nicht aufstehen oder sich nicht an Regeln halten können. Disziplin ist kein Angriff auf die Individualität, es ist eine Fähigkeit, ohne die man nicht überlebt.

Dennoch ist der Mangel an „Disziplin“ zum Angelpunkt der gesamten Erziehungsdebatte in Deutschland und Österreich geworden. Viele Leute denken wie Sie, dass es an Disziplin mangelt.

Was fehlt, sind Regeln. Junge Leute treiben einfach so dahin. Die Familie funktioniert nicht mehr so wie früher; Burschen, vor allem mit Migrationshintergrund, haben keine Vorbilder. Wer keine Regeln hat, kann sich ja nicht einmal dafür entscheiden, sie zu brechen. Das gehört aber zum Erwachsenwerden dazu. Kinder wollen diese Regeln und Grenzen. Und wenn sie sie einmal verstanden haben, lieben sie sie richtiggehend.

Sollte es mehr Disziplin in Schulen geben?

Oh, das kann man so schwer sagen. Es kommt doch immer drauf an, wer sie ausübt, wie und warum. Disziplin sollte nichts mit Kontrolle zu tun haben. Sonst landen wir schnell wieder bei Zeiten, in denen die Kinder auf ihren Händen sitzen müssen. Die Disziplin, die ich will, ist die, bei der der Sinn vom Kind verstanden wird. Damit wandelt sie sich in Selbstdisziplin und hilft den Kindern, ihr Leben selbst zu kontrollieren. Als Erwachsener hat man aber die Pflicht, diese Art der Disziplin zu lehren. Man muss es erklären, immer und immer wieder. Und die Kinder akzeptieren es letzten Endes. Sie sagen oft: „Royston ist der erste Mensch, der mich ernst nimmt.“ Und deshalb machen sie bei meiner Form der Disziplin mit: weil sie erkennen, dass das ein Ausdruck meines Glaubens an sie und ihre Fähigkeiten ist.

Sie reden auch viel über den Selbstwert der Jugendlichen. Dafür ist die Disziplin ja wohl auch essenziell?

Jawohl. Genauso wie die Fähigkeit, Risiken einzugehen. Deshalb wähle ich für meine Tanzprojekte auch immer Musik aus, die die Kinder überhaupt nicht kennen: Tanzschritte, die ihnen nichts sagen; Themen, mit denen sie sich wahrscheinlich nie beschäftigt haben. Ich will ihnen damit sagen: „Ihr könnt ein Risiko eingehen. Ihr könnt das. Ihr könnt alles, was ihr wirklich wollt. Vielleicht gefällt es euch am Schluss nicht, aber ihr wisst immerhin: Dennoch kann ich das.“ Ich kann diese herablassende Art nicht leiden, mit denen oft mit Kindern, und auch noch mit Jugendlichen, umgegangen wird. Wir grenzen sie oft ein mit unseren beschränkten Erwartungen. Wenn wir aber die Latte hochlegen, werden sie dem auch entsprechen.

Sehen Sie eine Krise im Selbstbewusstsein der heutigen Jugendlichen?

Ja, vor allem im Zusammenhang mit Migration und Integration. Traditionelle Werte gehen verloren, was sowohl gut als auch schlecht ist. Es gibt heute zwar sicher keine Probleme, die wir nicht vor 50 Jahren auch schon in der einen oder anderen Form hatten. Aber sie sind verschärft. Und wir haben nicht die Schulen und Institutionen, die sie lösen könnten.

Den Migrantenkindern steht die schrumpfende Zahl von Mittelklassekindern gegenüber, die teilweise wie Prinzen und Prinzessinnen behandelt werden.

Und die können wirklich sehr, sehr schwierig sein. Die sind andauernd gefordert und überstimuliert. Hier besteht oft das Problem, dass diesen Kindern nicht gestattet wird, sich zu langweilen. Langeweile ist aber notwendig, denn daraus entsteht Kreativität.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.11.2009)

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