»Das ist einfach eine genetische Disposition«

Der Verhaltenspädagoge Gerhard Spitzer warnt davor, Kinder zu früh zu »gendern«. Das destabilisiere das Rollenbild.

Sind wir dabei, die Unterschiede zwischen Buben und Mädchen zu verwischen?

Ja, wir sind mitten drinnen, und teilweise sehr aggressiv. Ich nehme das in der pädagogischen Fortbildung wahr. Wenn wir, die andere fortbilden, das nicht tun, werden wir kritisch beäugt.

Wo und wann passiert das?

Das beginnt schon bei Kleinkindern. Die werden ermutigt, manchmal sehr nachdrücklich, das eigene Rollenbild zu hinterfragen. Wir sollen ja auch unser Rollenbild infrage stellen, wir dürfen unser Geschlecht, unsere Sozialisierung jeden Tag ändern, wenn wir das möchten. Dass dabei ein instabiles Rollenbild entsteht, muss aber auch jedem klar sein. Instabilität ist eine Sache, wenn es um Erwachsene geht. Aber einem Kind zu sagen: Es freut uns viel mehr, wenn du Autos in die Hand nimmst statt deiner geliebten Puppe – dadurch wird ein Kind bereits verunsichert. Erwachsene denken, sie bieten Handlungsspielraum an. Der ist aber nur dann gut, wenn er nicht vorgegeben wird. Wenn es heißt: „Du solltest“, wird der Handlungsspielraum zu einer verpflichtenden Alternative.

Warum greifen Mädchen so oft zur Puppe und Buben zu Autos?

Da fehlen noch die schlüssigen Antworten. Aber eine gibt es: Weil sie dafür genetisch programmiert sind. Da gibt es Forschungen. Auch die Mutter ist von ihren Hormonen her programmiert, hoch aufmerksam und hochsensibel für Notsituationen zu sein. Viel mehr als das der Mann je sein kann, auch wenn er noch so kindbetont lebt und seine Rolle gern tauschen würde. Das ist einfach eine genetische Disposition.

Warum setzt man schon bei Kindern an?

Man hat festgestellt, bei Kindern geht's leichter. Ein Kind nimmt das eher an als ein Erwachsener. Es ist ja nichts dagegen zu sagen, dass sich jemand auch einmal „gendert“. Aber das soll er dürfen und nicht müssen. Dieses Verwischen akzentuiert den Geschlechterkampf erst so richtig. Für Kinder kann das belastend sein, da verwischt sich die Wahrnehmung des Selbst und der Umwelt. Mich hat vor Kurzem ein Zwölfjähriger gefragt: „Kann ein Mann auch Bundespräsidentin werden?“

Heute geht es ja weniger darum, womit Kinder spielen, sondern wie sie sich verhalten. Buben sollen mehr so sein wie Mädchen (fürsorglich), Mädchen mehr wie Buben (durchsetzungsstark).

Dagegen ist nichts zu sagen. Schlecht ist nur der Zugang: „Mach das so oder so.“ Wer erlaubt sich da, die Grenze zu ziehen? Individualität soll man fördern, aber nicht vorschreiben. Durch das Aufweichen der Geschlechtergrenzen soll ja die Individualität gefördert werden. Ich erlebe das allerdings umgekehrt. Die Individualität wird dadurch eingeschränkt. Wir unterstellen den Kindern, dass sie selbst nicht entscheiden können. Obwohl wir Wahlfreiheit vorspiegeln, geben wir ihnen erst wieder Rollenbilder vor. Kinder empfinden das aber oft als Zwang.

Also soll man Buben bis zu einem gewissen Alter Buben sein lassen und Mädchen Mädchen? Erst später soll man sich dann bemühen, Qualitäten des jeweils anderen Geschlechts zu fördern?

Würde man das ausklammern, bis die Persönlichkeit entwickelt ist, nach dem zwölften, dreizehnten Lebensjahr, und dann erst anfangen, andere Möglichkeiten zu bieten, wäre das Rollenbild bereits gefestigt. Das wäre fairer.

Viele Menschen tun sich schwerer mit der Vorstellung, dass „typisch weibliche“ Eigenschaften bei Buben gefördert werden, als Mädchen zu sagen, sie sollen sich mehr durchsetzen.

Ich glaube, instinktiv tun wir das alle. Wir sind für stärkere Frauen, wollen aber die Verweiblichung eines Mannes gar nicht akzeptieren. Was politisch korrekt ist, muss ja nicht automatisch menschlich korrekt sein. Wir können nicht negieren, wie wir sind. Wir versuchen derzeit zu sagen: Vergiss, dass es eine genetische Prädisposition gibt! Das ist doch vermessen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.04.2012)

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