Ein Schulschluss für immer

Volksschule Ebnit
Volksschule EbnitJulia Neuhauser
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Seit Generationen ist die Volksschule in dem kleinen Vorarlberger Dorf Ebnit fixer Bestandteil des Orts. Am Freitag wird sie wegen Schülermangels geschlossen.

Auf der Wiese unweit der Schule kräht der Gockelhahn. Am Hang darunter stehen die Kühe und läuten mit ihren Glocken. Und direkt vor der Schule, da bilden vier Kinder einen Kreis und singen lauthals: „O Hoamatle, o Hoamatle, am himmelblaue Bodesee“.

Was wie eine Szene aus einem kitschigen Heimatfilm klingt, ist in der Dornbirner Bergparzelle Ebnit Realität. An sonnigen Tagen wird der Unterricht der gerade einmal vier Volksschüler für eine Weile nach draußen verlegt. Morgenkreis nennt sich das Ritual. Doch schon bald werden die Schüler das „Hoamatle“ nicht mehr besingen. Es wird ruhig werden im Dorf. Sehr ruhig.

In Ebnit bekommt das Wort Schulschluss am Freitag etwas Endgültiges. Das Bergdorf verliert nach mehr als 200Jahren seine Volksschule. Für den 130-Seelen-Ort ist das eine Zäsur. Generationen sind in der Bergparzelle zur Schule gegangen – erst im Anbau der Kirche, seit 1984 hier, im weißen Haus mit Holzvertafelung und Balkon. Doch wie konnte es zur Schließung kommen? Was bedeutet das für das Dorf? Und wie war der Schulalltag mit nicht einmal einer Handvoll Kindern? Ein gerade noch rechtzeitiger Besuch.

Schon die Anfahrt ist abenteuerlich. Von Dornbirn bis in die Bergparzelle Ebnit sind es nur rund zehn Kilometer – aber die haben es in sich. Der Weg führt über eine schmale Serpentinenstraße hinauf. Es geht durch Tunnel, die nicht vermauert, sondern in den nackten Fels geschlagen wurden, und über schwindelerregend hohe Brücken. Der Blick nach links schlägt auf einer Felswand auf, der Blick nach rechts fällt in einen tiefen Abgrund. Fast die gesamte Strecke verläuft entlang der Rappenlochschlucht – einer der größten dieser Art in Mitteleuropa.


Mit der Feuerwehr zur Schule.
Über den ungewöhnlichen Weg kann auch Inge Maria Drexel so einiges berichten. Die einzige Lehrerin und zugleich Direktorin der Bergschule kramt einen dicken Ordner voller Fotos und Zeitungsberichte hervor: Es war ihr zweiter Tag als Lehrerin an der Bergschule, als Ebnit Schlagzeilen machte. Ein drei Tonnen schwerer Felsbrocken ist auf die Straße gefallen, die in das Bergdorf führt. Verletzt wurde niemand. Doch Ebnit war nur noch schwer erreichbar. Drexel wollte dennoch unterrichten. Sie überwand die verschüttete Straßenstelle zu Fuß, von dort brachte sie der Straßenmeister bis zur Schule. „Bei euch muss man Mut haben, um Lehrerin zu sein“, habe sie damals gesagt. In den folgenden zwei Wochen wurde sie mit dem Feuerwehrjeep zur Schule gebracht.

Während Drexel von ihren Erlebnissen in der kleinen Schule erzählt, wird sie plötzlich abgelenkt. Sie blickt auf ihren Computerbildschirm und öffnet ein E-Mail: „Kinder, jetzt hab ich es schriftlich. Ich muss in die andere Schule.“ Damit ist die Schließung amtlich. Und so traurig die Nachricht für das Bergdorf ist, die Lehrerin bringt das E-Mail dennoch zum Schmunzeln. Die Vorarlberger Landesregierung bittet sie als Direktorin der Volksschule Ebnit nämlich, die Nachricht an die zuständige Lehrperson weiterzuleiten. „Ich bin hier ja ohnehin alles in einem – Direktorin, Lehrerin und Schulwart“, sagt Drexel amüsiert.

Auch dazu gibt es viele Anekdoten. Etwa jene von der kaputten Heizung. Sie streikte ausgerechnet an einem kalten Wintertag, an dem die Elektriker in und rund um Dornbirn ausgelastet waren. Drexel suchte in ihrer Rolle als Schulwart einen Ausweg. Sie schob die Tische der vier Volksschüler vor den Ofen, heizte das Backrohr auf und unterrichtete unbeirrt weiter.

In der Bergschule läuft so manches etwas anders. Lea, Hannah, Elena und Philip kennen etwa keine Schulglocke. Die gibt es in Ebnit nicht. So rätseln die vier, die im Herbst in die Neue Mittelschule bzw. in das Gymnasium wechseln werden, wie das dort sein wird. Macht die Glocke „drrrdrrr“, „dingdong“ oder doch „dungdungdung“? Und während sie noch munter Glockengeräusche imitieren, wird es laut im Zimmer nebenan. Es ist die Kaffeemaschine, die surrt. Denn in Ebnit beginnt die große Pause dann, wenn der Kaffee der Frau Lehrerin fertig ist.

Vier sind zu wenig. In der Pause geht es hinaus ins Freie. „Die Kinder hier im Dorf sind nur in einem Punkt anders als die in der Stadt: Sie sind naturverbundener“, sagt Drexel. Das merkt man. Philip ist der Experte für die Berge. Er kennt sie alle – die Mörzelspitze, den Firstkamm, den Sattel, den Freschen. Und alle vier kennen wohl mehr verschiedene Blumenarten als die meisten Erwachsenen. Das haben sie ihrem Ritual, dem Morgenkreis, zu verdanken. Die Kinder stellen kleine Vasen mit Blumen in die Mitte des Kreises, und dann beginnt die Vorstellungsrunde: „Rose grüßt Ringelblume. Ringelblume grüßt Taglilie. Und Taglilie grüßt Magarite.“ Da bleibt einiges an Wissen hängen.

Wissen vermittelt in der Kleinstschule nicht nur die Lehrerin. Der Unterricht ist häufig offen. Die Kinder lernen viel voneinander. „Ich bin gut im großen Einmaleins und du im kleinen“, sagt Philip zu Lea, während die beiden ihre Mathematikbeispiele aus dem Kapitel „Bruchteile von Zahlen“ vergleichen. Die Lehrerin beobachtet die Schüler und bringt sich ein, sobald sie Hilfe brauchen. „Sie kommen mir nicht aus. Die vier haben quasi fünf Stunden am Tag Förderunterricht“, sagt Drexel.

Doch so gut der Unterricht mit vier Kindern auch zu funktionieren scheint, aus pädagogischer Sicht ist es nicht ideal: „Vier Kinder sind einfach zu wenig. Manche Dinge kann ich mit ihnen gar nicht machen. Wie soll man zu viert Völkerball spielen?“, fragt Drexel.

Schülermangel hausgemacht. Theaterspielen kann man übrigens schon. Das werden Lea, Hannah, Elena und Philip auch noch vor Schulschluss beweisen. Sie haben das ganze Dorf zum Abschlusstheater eingeladen. Fällt dort der Vorhang, dann „wird Ebnit wohl zur Schlafstätte“, wie es Direktorin Drexel ausdrückt. Was den Dorfbewohnern bleibt, sind die Kirche, die drei Gasthäuser und ein Museum. Das macht auch die Einheimischen nachdenklich: „Es geht alles verloren“, sagt Karin Kutzer, die nur wenige Meter von der Schule entfernt wohnt. In ihrer Familien haben drei Generationen die Schule im Bergdorf besucht. Die Volksschule sei etwas gewesen, das die Dorfbewohner „zusammengeschweißt“ habe. „Für das Gemeinschaftsleben ist die Schließung sicher ein Handicap“, beklagt die 57-Jährige.

Es scheint, als ob dieses Handicap das Dorf schon jetzt belastet. Vom großen Zusammenhalt ist, wenn man mit den Dorfbewohnern über die Schließung der Schule spricht, nicht (mehr) viel zu spüren. So manch Einheimischer ist überzeugt: Die Schließung wäre vermeidbar gewesen – hätten sich die Bewohner nur mehr um den Erhalt bemüht. So sieht es auch der Wirt. Ebnit gehöre nicht zu jenen Orten, die vom Aussterben bedroht sind. Im Gegenteil. Es gebe sogar immer wieder Menschen, die neu hierher auf den Berg ziehen.Der Schülermangel, der sei hausgemacht. Neben den vier Schülern, die im Herbst in Neue Mittelschule oder Gymnasium wechseln, und den beiden Erstklasslern, die nachgerückt wären, gebe es auch andere Dorfkinder im Volksschulalter. Doch deren Eltern hätten es für besser befunden, die Kinder jeden Tag mit dem Auto nach Dornbirn zu bringen, beklagt der Wirt.

Das mag wohl auch damit zu tun haben, dass die überwiegende Mehrheit der Bewohner ohnehin in Dornbirn arbeitet. Denn die Jobs im Dorf sind rar– nur in den Gasthäusern gibt es welche. Auch der Nachwuchs ist das Pendeln gewohnt. Der Kindergarten ging nämlich schon vor Ewigkeiten verloren. Außerdem hat die Stadt einen wesentlichen Vorteil gegenüber dem Dorf: Dort gibt es Nachmittagsbetreuung. „Alles nur Ausreden“, heißt es im Ort. Es hätte ja sogar hier auf dem Berg jemanden gegeben, der sich freiwillig um die Betreuung gekümmert hätte. „Doch sie wollen ihre Kinder einfach nicht hier zur Schule schicken“, sagt der Wirt. „Die Ebniter waren noch nie einfach“, ergänzt ein Gast.

In der Schule laufen die Aufräumarbeiten jedenfalls bereits: Es wird gründlich geputzt. Tische, Sessel und Kästen werden vom Erdgeschoß in den ersten Stock getragen. Zum Zwischenlagern. Für sieben Jahre. So ist es bei der Schulstilllegung vorgesehen. Die Hoffnung hat die zuständige Dornbirner Bürgermeisterin Andrea Kaufmann (ÖVP) jedenfalls noch nicht aufgegeben: „Wenn das Wunder passiert und in Ebnit wieder genügend Schüler sind, dann wäre das schön“. Und die Möbel, die wären ja schon da.

Kleinschule

Ebnit. Die Volksschule im Bergdorf im Gemeindegebiet von Dornbirn schließt am Freitag. Zuletzt gab es noch vier Schüler.

Definition.
Von Kleinschulen spricht man, wenn Standorte einklassig geführt und von bis zu 25Schülern besucht werden. Kleinstschulen nennt man wiederum Standorte, an denen maximal zehn Kinder zur Schule gehen.

Gesetz. Laut Schulorganisationsgesetz sollte eine einklassig geführte Schule mindestens zehn Schüler haben. Die Länder können diese Vorgabe aber durch eigene Gesetze unterschreiten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.06.2014)

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