Schule in China: „Meine Sicht auf die Welt hat sich verändert“

(c) Benedict Kerres
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Benedict Kerres, 16, hat ein Jahr in Peking verbracht. Jetzt spricht – und denkt – er Chinesisch.

WIEN. Die Lust auf Abenteuer war es, die Benedict Kerres vor etwa eineinhalb Jahren auf die Idee brachte, sich für einen Auslandsaufenthalt in China zu bewerben. „Ich habe nach etwas Extremem gesucht. In die USA gehen viele, ich wollte eine ausgefallenere Destination.“ Dass ihn das Abenteuer gar so schnell einholen würde, damit hatte er allerdings nicht gerechnet. „Ich erinnere mich noch gut an die Ankunft bei meiner Gastfamilie in Peking. Nur mein Gastvater war zu Hause – und der sprach kein Wort Englisch, ich kein Wort Chinesisch. Schweigend saßen wir uns zwei Stunden gegenüber, immer wieder bat mir mein Gastvater Nüsse und Wasser an, um die Stille zu durchbrechen.“

Ohne Chinesisch kein Überleben – das hatte Kerres umgehend begriffen. In einem Crash-Kurs lernte er zunächst die Sprache.„Angetrieben vom chinesischen Fleiß lernte ich die ersten Monate bis tief in die Nacht. Als ich schlafen ging, brannte im Zimmer meines Gastbruder noch immer Licht.“ Und der spielte nicht etwa Computer oder hörte Musik, sondern lernte. „Der Ehrgeiz unter chinesischen Schülern ist wirklich extrem – er ist wohl auf die große Menge an Menschen zurückzuführen. Überall gibt es Ranglisten und in der Schule ist man kein Streber, wenn man gute Noten hat, sondern cool. Meine Gastmutter wollte alle Sachen wegsperren, die mich vom Lernen ablenken könnten – Zeitungen, MP3-Player, Bücher. Manchmal, wenn ich schlief, kontrollierte sie auch meine Schulhefte.“

Zwei Minuten duschen

Gastfamilie und -schule wurden von der Austauschorganisation AFS (American Field Service) ausgesucht, bezahlt wird die Familie für die Aufnahme eines Gastschülers nicht. „Die Philosophie von AFS ist, dass die Gastkinder wie eigene Kinder behandelt werden sollen“, erzählt Kerres. Und dass das für ihn anfangs nicht leicht war. „Ich musste mit meinen Gasteltern erst aushandeln, zwei Minuten pro Tag kalt duschen zu dürfen. Die Eltern waren beide Beamte, hatten nicht viel Geld, das war nicht selbstverständlich. Eine Heizung kauften sie auch erst auf mein Drängen. Davor schlief ich in allem was ich hatte – Daunenjacke und mehrere Pullover. Im Winter hatte es immerhin bis Minus zehn Grad, draußen wie drinnen.“

Zwei Zentimeter Haarlänge

Der Schultag war streng durchorganisiert: 7h: Frühsport, 7.15h: Beginn der Studierzeit, 7.30h: Unterrichtsbeginn, 12h: Mittagspause, 14-17h: Unterricht. Danach standen noch Hausaufgaben auf dem Programm. Auch das äußere Erscheinungsbild war normiert. „Alle trugen Uniformen und die Schule empfahl eine Haarlänge von zwei Zentimetern für Buben und fünf bis sieben Zentimeter für Mädchen. Also ließ ich mir für umgerechnet 20 Cent die Haare trimmen. Als ich mich danach im Spiegel betrachtete, blickte ein halber Chinese zurück.“

Für die Chinesen blieb er freilich „der Ausländer“. In den Straßen Tongzhous, seiner Wohngegend, wusste jeder, wo er zu Hause war. Immer wieder wurde er fotografiert – ganz offensichtlich oder heimlich, mit der Handykamera. In der Schule war „der Ausländer“ als Englisch-Tutor gefragt. „Die Chinesen denken sehr nutzen-orientiert. Es ist schwer zu unterscheiden, ob sie dich wirklich mögen, oder ob sie sich mit dir abgeben, weil du ihnen etwas bringst. Ein Mädchen hat sich immer wieder mit mir unterhalten – bis ich herausfand, dass sie einfach ihr Englisch verbessern wollte. Nach und nach habe ich diese Mentalität aber kennen gelernt und konnte damit umgehen.“

Kerres selbst empfindet sich nach dem Jahr schon als sehr chinesisch. „Meine Sicht auf die Welt hat sich sehr verändert. Ich bin mit dem Gefühl zurückgekommen: Ich bin zwar Österreicher, aber tief im Inneren auch ein bisschen Chinese.“ Gewisse Dinge nimmt er jetzt anders wahr. „Es ist nichts mehr so selbstverständlich. In Wien ist es normal, blauen Himmel und in der Nacht die Sterne zu sehen – das kommt in Peking nur ein paar Tage im Jahr vor. Sonst ist der Himmel fast immer grau vom Smog.“

In China studieren

Trotz aller Schwierigkeiten und Herausforderungen hat Benedict Kerres das Jahr in China in vollen Zügen genossen. Sobald er in Österreich die Schule abgeschlossen hat – er besucht jetzt wieder das Theresianum – will er wieder zurück. Um zu studieren. Die dazu nötige Prüfung hat er vorsorglich bereits gemacht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.09.2008)

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