Modellregion Zillertal: Üben für die Gesamtschule

Zillertal
Zillertal(c) Bernadette Bayrhammer
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Die Gesamtschule ist im Zillertal an sich nichts Neues. Erprobt wird nun eigentlich, wie unterschiedliche Schüler besser gefördert werden können.

Es ist beinahe unheimlich, wie still die 13-Jährigen plötzlich werden, als Johann Sebastian Bach erklingt. An die Tafel hat Deutschlehrer Michael Bachlechner eine Folie mit allerhand Fragen projiziert, anhand derer die Schüler der 3a ihr Protokollheft füllen. Daniel ist heute zufrieden, weil er seinen Plan eingehalten hat. Lorena ist stolz, weil sie endlich ihre Deutschaufgabe erledigt hat. Die Reflexion bei klassischer Musik ist ein regelmäßiges Element in der Neuen Mittelschule in Mayrhofen im Zillertal.

Eines, das sich so oder so ähnlich demnächst auch in anderen Schulen im Tal wiederfinden könnte. Denn hier soll sich in nächster Zeit einiges ändern: Hier, im hinteren Tal, umgeben von mehreren Dreitausendern, wird ein Projekt durchgeführt, das bundesweit für Wirbel gesorgt hat: die Gesamtschulmodellregion. Die man nach und nach mit Inhalt zu füllen sucht.

Keine leichte Aufgabe. Nicht zuletzt, weil vor Ort lange niemand so recht wusste, was es nun mit der Modellregion auf sich haben sollte, die der Tiroler Landeschef, Günther Platter, vor fast zweieinhalb Jahren angekündigt hatte. Ein Schelm, wer ihm unterstellte, sich damit vor allem gegenüber dem damaligen ÖVP-Chef, Michael Spindelegger, zu positionieren, dem das Gymnasium so heilig war wie den Tirolern ihr Bundesland. Platter kündigte einen eigenen Weg an. Er halte es für falsch, dass Zehnjährige entscheiden müssten, welchen schulischen Weg sie einschlagen wollen.

Das war nun im Zillertal allein aus topografischen Gründen ohnehin kaum der Fall: Das nächstgelegene Gymnasium befindet sich unbequem weit weg: in Schwaz, von Mayrhofen mehr als eine Stunde im Bus. So oder so gehen also 347 der 369 zehnjährigen Zillertaler in eine der sieben Neuen Mittelschulen. Weshalb Kritiker der Meinung sind, die Modellregion sei gar keine – sondern schlicht Normalität in einer ländlichen Gegend.

Fakt ist: Es ist kein Versuch in dem Sinn, dass nun plötzlich Schüler zusammen in einer Klasse sitzen, die das zuvor nicht taten. Sondern eigentlich der Versuch, besser mit der Unterschiedlichkeit der einzelnen Schüler umzugehen.

Bildungslandesrätin Beate Palfrader (ÖVP) drückt es so aus: „Wir brauchen die bestmögliche Ausbildung für alle Kinder. Ich sehe die größte Chance, wenn wir die Schüler später trennen. Die Möglichkeit einer gemeinsamen Schule scheint derzeit aber nicht in erreichbarer Nähe zu sein. Also probieren wir aus, was wir können. Entscheidend ist: Wir brauchen eine Schule, die sich auf die Begabungen der Kinder einstellt, die sich gerade von zehn bis 14 stark verändern.“

(c) Die Presse

„Labor für Zukunft von Schule“

Dafür hat Palfrader eine ganze Runde an Mitstreitern aus Wissenschaft, Schulaufsicht und Schulen um sich geschart: Michael Schratz, Dekan des Instituts für Lehrerbildung und Schulforschung der Uni Innsbruck mit zwei Kollegen etwa. „Aus wissenschaftlicher Perspektive ist das so etwas wie ein Entwicklungslabor für die Zukunft von Schule“, meint er. Da ist die Rede von einer lernenden Region, vom einzelnen Schüler im Zentrum allen Tuns, von Fähigkeiten und Begabungen, von Stärken statt Defiziten.

Einen Teil dessen auf den Boden zu bringen, das ist die Aufgabe von Franz Niedertscheider. Er ist eigentlich NMS-Lehrer in Mayrhofen und freigestellt, um die sogenannte Kompetenzwerkstatt zu entwickeln. Ausgangspunkt für alles: die individuellen Begabungen und Stärken der Schüler. Was das heißt, ist besser vorstellbar, als der zehnjährige Gabriel seine Schatzkiste ausräumt. Darin: ein gehäkelter Lappen. Fotos von Gabriel auf dem Traktor. Ein Blatt, auf dem Verwandte und Nachbarn notiert haben, was er besonders gut kann. Dazwischen Referate, die Gabriel gehalten hat und immer wieder Blätter mit Reflexionen. „Da schreibe ich auf, wie es den anderen gefallen hat und wie es mir dabei ergangen ist“, erklärt er.

„Zunächst geht es darum, den Kindern klarzumachen, dass sie überhaupt Stärken haben“, sagt Niedertscheider – vom Häkeln bis zum Heumachen. Nach und nach fokussiere das sogenannte Stärkenportfolio dann auf Lehrinhalte. So, wie etwa in der geschilderten Reflexionsviertelstunde. „Letztlich mündet das in individuelle Lernverträge, die Schüler, Lehrer und Eltern erarbeiten.“ Und in der letzten Klasse geht es darum, wie jeder Schüler seine Ziele erreicht. „Von pädagogischer Seite ist das große Ziel der Modellregion, dass jedes Kind optimal gefordert und gefördert wird und dass es die beste Basis für die Berufs- und Schulwahl hat.“

Das würden inzwischen auch die meisten der knapp 200 Lehrer im Tal mittragen. Und das, obwohl der Start eigentlich nicht ganz optimal war. „Wir sind ja nicht gefragt worden, ob wir diese Modellregion wollen“, sagt Peter Lechner, Direktor der NMS Mayrhofen. „Aber wir sagen hier alle: Das kann nur eine Chance sein.“ Als Schulleiter müsse man stets anschieben, wenn es um die Schulentwicklung geht. „Jetzt schiebt jemand mit. Das ist auf jeden Fall ein Vorteil.“

Peter Lechner ist einer, den die anderen Beteiligten als „passionierten Schulentwickler“ bezeichnen. Nicht umsonst ist seine Schule einige Schritte voraus, wenn es eben um Portfolios, Stärken, Kompetenzen geht. Seit 20 Jahren wird hier mit offenem Unterricht gearbeitet. „Bei uns wird sich in diesem Punkt nicht so viel ändern“, sagt Lechner.

Alle sollen voneinander lernen

Die sieben Schulen im Tal sind in unterschiedlichen Punkten unterschiedlich weit. Auch wenn das etwas ist, was man lieber nicht betont. Man legt darauf Wert, dass ja keine Schule zu sehr herausgestrichen wird. Denn immerhin sollen sie sich alle als Teil eines gemeinsamen Projekts verstehen. Wie es Dekan Michael Schratz ausdrückt: „Es geht nur im Zusammenspiel mit allen Schulen – und mit den Behörden, Eltern, der Wirtschaft.“ Damit eben eine Region entsteht, in der alle irgendwie voneinander lernen – von der Schule über den Bürgermeister bis zum Hotelbetrieb.

Ein paar Kilometer talauswärts, in Zell am Ziller, sitzt Erwin Haid in seiner Schule, ebenfalls einer Neuen Mittelschule. Er sieht die Sache ganz ähnlich wie sein Kollege Peter Lechner. „Wir haben uns nicht für die Modellregion beworben, aber jetzt machen wir das Beste daraus. Wir haben alle Schüler, die guten und die anderen auch. Deshalb eignet sich auch die Region ganz gut.“

In seinem Ort soll die neue AHS-Oberstufe entstehen, die die Modellregion einst komplett machen soll. „Der Bürgermeister einer Berggemeinde hat da gesagt: Dann kann zum ersten Mal in der Geschichte seiner Gemeinde ein Kind eine AHS-Matura machen, ohne dass es ins Heim muss“, sagt Haid.

Das ist auch aus Sicht der Eltern der große Vorteil. Auch wenn der Eindruck entsteht, dass die Eltern jene seien, die am wenigsten darüber Bescheid wissen, was die Modellregion bringen wird. Demnächst soll sich das aber ändern: Im Februar startet die sogenannte Elternakademie, die die Pädagogische Hochschule Tirol ausarbeitet und mit der die Art der Elterneinbindung reformiert werden soll.

Ein entscheidender Moment wird die Einschreibung für das nächste Schuljahr: Da wird sich zeigen, ob mehr oder weniger Eltern ihre Kinder in einer der NMS anmelden und ob mehr oder weniger als die heuer 22 Schüler dann ins Gymnasium nach Schwaz pendeln.

Der „Schürzenjägereffekt“

Im Zillertal soll das Projekt jedenfalls nicht bleiben – es soll vielmehr ein Prototyp sein, auch für Regionen in ganz Österreich. Aber geht das eigentlich? „Die Hauptschule in Wien hat, wenn es um das einzelne Kind und dessen Lernprozess geht, mit genau denselben Problemen zu kämpfen“, sagt Christian Kraler von der Uni Innsbruck, der ebenfalls im Projektteam mitarbeitet. „Insofern ist das schon übertragbar.“

Und dann wird es fast ein bisschen komisch. „Das Zillertal hat ein ganz besonderes Potenzial, auszustrahlen“, sagt Kraler. „Nennen wir es den Schürzenjägereffekt. Da hat man aus dieser Region heraus ein ganz neues Genre begründet.“ Irgendwie ist da etwas dran. Ob man das Genre jetzt schätzt oder nicht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.01.2015)

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