Wenn das mein Lehrer wüsste...

Auf Karten wie dieser oder Post-its ließ Kyle Schwartz ihre Schüler ihre Gedanken aufschreiben, manchmal mit Rechtschreibfehlern.
Auf Karten wie dieser oder Post-its ließ Kyle Schwartz ihre Schüler ihre Gedanken aufschreiben, manchmal mit Rechtschreibfehlern.Archiv
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Aus dem Versuch einer amerikanischen Pädagogin, die Lebenswirklichkeit ihrer Schüler besser zu verstehen, wurde eine internationale Aktion mit bewegenden Einblicken.

Eigentlich wollte Kyle Schwartz nur einen Weg finden, die Welt, in der ihre Schüler leben, besser zu verstehen. Dass aus ihrer Idee eine Bewegung würde, der sich Lehrer und Schüler nicht nur in Amerika, sondern auch in zahlreichen Ländern Europas, Asiens und sogar in Neuseeland angeschlossen haben, hätte sich die Lehrerin anfänglich nicht träumen lassen. Denn es waren lediglich kleine Post-it-Zettel, die sie in ihrer Klasse an der Doull Elementary School in Denver mit der Bitte verteilte, den Satz „I wish my teacher knew . . .“ – „Ich wünschte, mein Lehrer wüsste . . .“ – zu vervollständigen.

„Ich bin zwar auch in Denver aufgewachsen und nur 20 Minuten von der Doull Elementary zur Schule gegangen“, erzählt Schwartz der „Presse am Sonntag“, „aber mein Hintergrund ist ein ganz anderer. An meiner Schule gab es materiell alles, was wir brauchten, und das kann man von meiner jetzigen Schule ganz und gar nicht behaupten.“ An dieser kommt ein Großteil der Schüler aus sozial schwachen Familien, 90 Prozent leben unterhalb der Armutsgrenze und fast alle haben Anspruch auf ein kostenloses oder zumindest bezuschusstes Schulmittagessen; weshalb die junge Lehrerin anfänglich damit zu kämpfen hatte, die Lebenswirklichkeit ihrer Drittklässler zu verstehen.

Das änderte sich mit den Botschaften auf den kleinen gelben Zetteln, die zunächst nur auf einer großen Pinnwand im Klassenzimmer aufgeklebt wurden. Die Antworten darauf waren allerdings so bewegend, dass Schwartz schnell beschloss, sie einer größeren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Unter dem Hashtag #IwishMyTeacherKnew begann Schwartz im Frühjahr, die Botschaften ihrer Schüler auf Twitter zu veröffentlichen. Dort zeigte sie Fotos der Post-its, auf denen ihre Schüler den Satz „Ich wünschte, mein Lehrer wüsste . . .“ mit Aussagen wie „. . . dass mein Heft deswegen manchmal nicht unterschrieben ist, weil meine Mutter nicht so oft in der Nähe ist“, „. . . wie sehr ich meinen Vater vermisse, seit er nach Mexiko deportiert worden ist“ oder „. . . dass ich keine Stifte daheim habe, um meine Aufgaben zu machen“ zu Ende geführt hatten, und rief andere Lehrer dazu auf, ihrem Beispiel zu folgen.

Das Echo war überwältigend, innerhalb kürzester Zeit machte das Beispiel buchstäblich Schule, bescherte Schwartz über 12.000 Follower und dem Thema eine ganz neue Aufmerksamkeit. Wobei hier keineswegs nur die Sorgen und Nöte amerikanischer Grundschüler aus schwierigen materiellen Verhältnissen abgebildet wurden. Auf den Notizzetteln aus aller Welt, die sich auf Schwartzs Twitterseite sammelten, fanden sich auch jede Menge Anliegen, die nichts mit Armut oder Wohlstand zu tun haben.


Mama zwei Jahre nicht gesehen. Dort wünschten sich Kinder aus Portugal, Japan und verschiedenen amerikanischen Bundesstaaten, dass ihre Lehrer wüssten, wie einsam sie sich manchmal fühlten, dass sie keine Freunde zum Spielen haben, wie gern sie lernen und dass sie davon träumen, einmal auf das College zu gehen. Manche Nachrichten, die die Kinder ihren Lehrern zukommen ließen, waren todtraurig und erzählten von der Enttäuschung, die leibliche Mutter seit zwei Jahren nicht mehr gesehen zu haben, der Angst, weil „meine Mama krank geworden ist“, den Sorgen, „weil meine Oma Krebs hat und die Ärzte sie aufschneiden mussten“, und dem Gefühl, „dass ich eine Depression habe und niemand es weiß“.


Wackelnde Zähne. Aber auch kindlich-unterhaltsame Mitteilungen hatten den Weg an die größer werdende Zahl der Schwarzen Bretter mit der Aufschrift „I Wish My Teacher Knew“ gefunden: Diese erzählen von wackelnden Zähnen und dem Wunsch, die Lehrerin könnte doch vietnamesisch oder einen Salto rückwärts, würde nicht immer nur bei anderen bemerken, wenn diese gut aufpassten – und von der Tatsache, dass die Lehrerin gar nicht so schrecklich ist, auch wenn die Leute immer hinter ihrem Rücken behaupten, sie sei es doch. Ob die Kinder ihre Nachrichten unterschreiben oder lieber anonym posten, ist ihnen freigestellt.

„Schüler auf der ganzen Welt haben mit den gleichen Problemen zu kämpfen“, sagt Schwartz, „und es gibt so etwas wie eine universelle Beziehung zwischen Lehrern und Schülern, die keine Landes- oder Sprachgrenzen kennt.“ Das Schöne am Erfolg ihrer Aktion sei, dass sie mit ihrer Idee dazu beigetragen habe, diese Beziehung zu verbessern und zu intensivieren.

Das Bekanntwerden der Idee habe zwar auch ihr persönlich zu einer gewissen Prominenz verholfen, da fast alle großen US- und auch etliche internationale Medien über die Aktion berichtet haben. Das wirklich Bewegende für sie sei aber, welche Auswirkungen das auf ihre Schüler gehabt habe. „Für sie war es wirklich großartig zu sehen, wie viel Power sie haben, gerade an einer Schule, die durchaus bedürftig ist“, so Schwartz. „Das sind Achtjährige, deren Wünsche und Ängste plötzlich von Lehrern und Schülern auf der ganzen Welt gelesen wurden, das hat für genau die Art von Selbstbewusstsein gesorgt, die wir uns für sie wünschen.“

Auch ihre eigenen Möglichkeiten haben sich durch die mediale Aufmerksamkeit natürlich deutlich erweitert, ihre Karrierepläne haben sich dadurch vorerst aber kaum geändert. „Ich bin wirklich mit großer Leidenschaft Lehrerin“, erzählt die 28-Jährige, „und will das auch bleiben. Aber die Aktion hat natürlich Türen geöffnet, die es mir möglich machen, mehr für meine Schüler zu erreichen.“

Dazu gehört unter anderem ein Spendenkonto, das Schwartz auf der Webseite donorschose.org eröffnet hat, wo sie regelmäßig um Sachspenden von Büchern über warme Winterjacken bis zu Bällen und Zahnpasta bittet. Und meist nicht lang auf entsprechende Hilfe warten muss: Über 500 Spenden haben hier im vergangenen Halbjahr mehr als 73 Projekte gemeinsam verwirklicht.

Steckbrief

Kyle Schwartz,
28, geboren und aufgewachsen in Denver, unterrichtet heute Volksschüler an der Doull Elementary School.

2015 begann sie die kleinen Notizen ihrer Schüler via Twitter zu verbreiten – und bekam viel Zuspruch. Die Aktion findet seither viele Nachahmer auf der ganzen Welt. Privat

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.02.2016)

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