Ganztagsschule: Eltern dürfen nicht mitentscheiden

 Mittagessen in der Schule und verpflichtender Nachmittagsunterricht: Darüber entscheidet in Wien allein die Stadt.
Mittagessen in der Schule und verpflichtender Nachmittagsunterricht: Darüber entscheidet in Wien allein die Stadt.(c) Clemens Fabry
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Wird eine Halbtagsschule zur verschränkten Ganztagsschule umgewandelt, müssen zuvor zwei Drittel der Eltern und Lehrer ihre Zustimmung geben. Nicht aber in Wien.

Wien. Wien ist anders. Der berühmt-berüchtigte Werbespruch bewahrheitet sich wieder einmal – diesmal beim Thema Ganztagsschulen. Die Hauptstadt ist hier Vorreiter. Denn kein anderes Bundesland hat annähernd so viele Ganztagsplätze wie Wien. Das hat die rot-grüne Stadtregierung aber auch mit ungewöhnlichen Mitteln erreicht – indem sie den Eltern und Lehrern das Mitspracherecht genommen hat.

Die Geschichte ist kompliziert. Seit Jahren wird von politischer Seite versucht, mehr Ganztagsschulen zu schaffen. Während die ÖVP gern mehr Schulen mit unverbindlicher Nachmittagsbetreuung sehen würde, möchte die SPÖ mehr verschränkte Ganztagsschulen. In diesen wechseln sich Unterricht und Freizeit den Tag hindurch ab. Deswegen ist der ganztägige Schulbesuch dort für alle verpflichtend.

Wenn Halbtagsschulen zu solchen verschränkten Ganztagsschulen umgewandelt werden, müssen Eltern und Lehrer befragt werden. So will es das bundesweite Schulorganisationsgesetz. Laut diesem braucht es bei der Schaffung einer verschränkten Ganztagsschule bzw. einer verschränkten Klasse die Zustimmung von zwei Dritteln der betroffenen Eltern sowie von zwei Dritteln der betroffenen Lehrer.

Landesregierung entscheidet

Auf Bundesebene wurde in den vergangenen Jahren immer wieder über die Lockerung dieser Zweidrittel-Hürde diskutiert. Verborgen blieb dabei, dass sich ausgerechnet die Hauptstadt ohnehin nicht an diese hält. In Wien wurde schon vor Jahren ein eigenes Landesgesetz erlassen. Im sogenannten Wiener Schulgesetz ist festgelegt, dass „über die Führung ganztägiger Schulformen [...] an allgemein bildenden Pflichtschulen“ die Landesregierung entscheidet.

Bei der Umwandlung einer Schule ist lediglich das Kollegium des Stadtschulrats zu hören, ein politisch besetztes Gremium. De facto gibt es für Wiener Eltern in Volks- und Neuen Mittelschulen also kein Mitspracherecht. Ein solches haben die Eltern nur in Gymnasien. Dabei handelt es sich nämlich um Bundesschulen.

Das Bildungsministerium hält die Regelung für rechtens. Es sei im Pflichtschulbereich Aufgabe der Länder, Ausführungsgesetzgebungen zu erarbeiten. Acht Bundesländer hätten dabei die bundesgesetzliche Bestimmung übernommen. Wien eben nicht. Beides sei korrekt.

Auch die Stadt verteidigt die Regelung: Wenn Schulen umgestellt würden, dann stets beginnend mit der ersten Klasse, es seien keine im System befindlichen Schüler betroffen, heißt es aus dem Büro von Bildungsstadträtin Sandra Frauenberger (SPÖ). Differenzen bei Systemumstellungen könne man außerdem „nie ausschließen“. Und die Stadt arbeite deshalb eifrig am Ganztagsschulausbau, weil es die Bevölkerung möchte und man in der Stadtregierung von deren pädagogischer Qualität überzeugt sei.

Konfliktfrei dürfte die von oben verordnete Umwandlung in Wien nicht an allen Standorten über die Bühne gehen. Der „Presse“ ist ein Streitfall bekannt. Gerade bei Eltern, die bereits ein Kind in der Halbtagsform haben und das zweite Kind an die gleiche Schule schicken möchten, sorgt die Umwandlung zur Ganztagsschule für Unmut. Rückendeckung vom Wiener Landesverband der Elternvereine gibt es für sie nicht. „Ich finde die Umgehung der Zweidrittel-Hürde, bis zu dem Zeitpunkt, an dem es genügend Ganztagsplätze in Wien gibt, gut“, sagt Christian Morawek (SPÖ), der im Vorstand des Wiener Pflichtschulelternverbands ist. Derzeit gebe es noch mehr Eltern, die einen Ganztagsplatz suchen, als Eltern, die den Halbtagsplatz nicht verlieren möchten. Die Umwandlung scheitere außerdem meist ohnehin nicht an den Eltern, sondern an den Lehrern. „Bei den Lehrern hält sich der Enthusiasmus in Grenzen“, sagt Morawek zur „Presse“.

Tatsächlich ist der Gewerkschaft die Wiener Regelung ein Dorn im Auge: Das ist ein „gravierender Rechtsbruch“, sagt Pflichtschullehrervertreter Paul Kimberger zur „Presse“. Als „Verzicht auf Schuldemokratie“ bezeichnet es sein Stellvertreter Martin Höflehner und berichtet von Lehrern, denen ein Schulwechsel nahegelegt wurde, falls sie einen ganztägigen Betrieb ihrer Schule nicht mittragen.

Der Ausbau wird künftig dennoch weitergehen – und zwar noch rascher. Denn erst kürzlich wurden 750 Millionen Euro für Ganztagsschulen lockergemacht. Bis 2025 sollen in Österreich 40 Prozent der Pflichtschüler eine Ganztagsschule besuchen. Derzeit sind es 22 Prozent. In Wien liegt der Wert schon jetzt deutlich höher. 43,9 Prozent der öffentlichen Volksschulen und 48,3 Prozent der NMS werden in der Stadt ganztägig geführt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.09.2016)

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