Aufstieg von Zuwanderern: "Bildung, Bildung, Bildung"

Stephanie Lin Samirah Amadu und Sahire Bozkurt
Stephanie Lin Samirah Amadu und Sahire Bozkurt(c) Bruckberger
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Die Kinder sollen einmal bessere Chancen haben: Das ist die Hoffnung fast aller Eltern. Es gibt immer mehr Zuwandererfamilien, die mit dem Bildungsaufstieg des Nachwuchses Ernst machen.

Bildung, Bildung, Bildung“: Das war das Mantra, das Sahire Bozkurt von klein auf von ihrem Vater zu hören bekam. „Sonst wirst du einmal herumkommandiert.“ Weil seine Eltern als Gastarbeiter nach Österreich kamen, musste Sahires Vater Osman die Schule abbrechen und mit ihnen ziehen. „Sie waren arm und wollten Geld verdienen“, sagt Sahire, ein 18-jähriges Mädchen mit schwarzen Locken und funkelnden Augen.

Mit seinem Pflichtschulabschluss fand Osman nur als Gärtner Arbeit. Vermutlich war es diese bittere Lebenserfahrung, erzählt Sahire, die ihn bewegte, sie und ihre vier Geschwister zeitlebens anzuspornen. Sahire soll mehr Möglichkeiten haben als die Frauen vor ihr: Ihre Großmutter war noch Analphabetin, ihre Mutter ist Hausfrau. „Eigentlich wollte sie Lehrerin werden. Dann hat sie eine eigene Klasse bekommen“, sagt Sahire augenzwinkernd und meint damit sich und ihre Geschwister.

Die Kinder sollen einmal bessere Chancen haben: Das ist die Hoffnung fast aller Eltern, insbesondere aber jener, die ihr Heimatland gegen ein anderes eingetauscht haben. Für viele ist genau dieser Wunsch erst die Motivation, an einen oft unbekannten Ort zu ziehen. Doch wenn die Absichten so gut sind – warum schaffen es dann so wenige Kinder von Zuwanderern, die Erwartungen ihrer Eltern zu erfüllen?

Aufstieg gelingt selten. In Österreich erreicht nur ein Viertel der Kinder einen höheren Bildungsgrad als die Eltern. Bildungsaufstieg ist – im internationalen Vergleich – schwierig. Viele Migrantenfamilien starten von einem besonders niedrigen Niveau: Während 16,4 Prozent der 25- bis 64-jährigen Österreicher im Jahr 2007 „nur“ einen Pflichtschulabschluss vorweisen konnten, waren es unter Nichtösterreichern 34 Prozent, bei türkischen Staatsbürgern gar 76 Prozent.

Spiegelverkehrt sieht es bei den höheren Abschlüssen aus: 14 Prozent der Österreicher haben einen AHS- oder BHS-Abschluss; Bürger aus dem ehemaligen Jugoslawien kommen auf neun, Türken auf 5,5 Prozent. Noch geringer ist die Zahl der Uniabsolventen: 2,3 Prozent der Türken haben eine Universität besucht, aber immerhin 12,3 Prozent der Österreicher.

Experten sagen, dass in Zuwandererfamilien oft das Wissen über das Bildungssystem fehlt. Sprich: Die Eltern können ihren Kindern im Alltag nicht helfen – weder bei Hausaufgaben noch bei der ungleich wichtigeren Wahl der „richtigen Schule“. Nicht allein der Sprachschwierigkeiten wegen: Viele wissen nicht, wie das österreichische Bildungssystem funktioniert oder haben selbst kaum praktische Erfahrung mit dem Schulwesen gesammelt.

„Mein Bruder hat eine Mittelschule besucht“, erzählt die 17-jährige Samirah Amadu, deren Familie aus Ghana stammt. „Meine Mutter kannte sich im Bildungssystem nicht so aus.“ Als Samirah vor der Wahl stand, wurde sie selbst aktiv. Sie wusste, dass eine Hauptschule heute nicht mehr reicht, dass man, um weiterzukommen, eine Matura braucht. Mindestens. „Ich habe mich über Schulen informiert. Ich wollte auf ein Gymnasium.“ Wie immer mehr Zuwandererkinder: Mittlerweile hat in Wien jedes vierte Kind in der AHS-Unterstufe einen Migrationshintergrund.

Nach dem Gymnasium schrieb sich Samirah auf einer Wiener HTL, Fachrichtung Bautechnik, ein. Sie möchte später Bauingenieurswesen studieren. Das schlanke Mädchen mit den geflochtenen Zöpfen und Kopfhörern um den Hals – „Ich höre alles Mögliche, nicht nur R'n'B und Rap!“ – kann daran nichts Außergewöhnliches finden. „Mein Vater und meine zwei Brüder sind auch Techniker.“

Ob junge Menschen mit Migrationshintergrund auf ihrem Bildungsweg weiterkommen, entscheidet sich freilich nicht nur in der Familie. „Oft kommt es auf einen engagierten Lehrer an“, sagt Karin Heyl, Geschäftsführerin der Crespo-Foundation.

Die deutsche Privatstiftung vergibt jährlich in Österreich Stipendien für begabte Zuwandererkinder. Stipendiaten erhalten 100 Euro Bildungsgeld pro Monat, einen Laptop mit Internetanschluss und nehmen regelmäßig an Seminaren teil. Das Hauptziel ist der Abschluss der Matura. Und der Aufbau eines Netzwerks, das im Berufsleben weiterhilft.


Keine Ausnahme mehr. Vor ein paar Tagen fand im Haus der Industrie die Aufnahmezeremonie von zehn neuen Stipendiaten statt. In einem prunkvollen Saal unter dem Bildnis von Kaiser Franz Joseph versammeln sich türkische Teenager in Anzügen und herausgeputzte Mädchen aller Hautfarben in Abendkleidung, schüchterne Neueinsteiger stehen neben selbstbewussten „Alumnis“. Es sind junge Leute, die Sätze sagen wie: „Leider haben wir die Wörter ,Migration‘ und ,Ausländer‘ meist in einem negativen Kontext gehört.“ Doch an diesem Abend sind sie weder Negativbeispiele noch inszenierte positive Ausnahmen. Sie sind einfach junge Menschen, mehrsprachig und kultursensibel. Nicht, weil sie das in teuren Privatschulen und Abendkursen gelernt haben, sondern weil sie schlicht zwischen den Kulturen aufgewachsen sind. Jugendliche, aufgeweckt und ehrgeizig, für die Bildung zu einem Schlüsselwort geworden ist.

Stephanie Lin, seit zwei Jahren Stipendiatin, strahlt eine Selbstsicherheit aus, wie sie vielen hier eigen ist. Sie hört aufmerksam zu, spricht nachdrücklich, gestikuliert. Ihre Eltern sind vor 30 Jahren aus Taiwan nach Österreich gekommen, ihre Mutter holte hier die Matura nach. Ein Vorbild für Stephanie. Heute besucht die 18-Jährige den bilingualen Zweig der HAK Hetzendorf. „Ich hatte bisher nur ausgezeichnete Schulerfolge“, erklärt sie stolz.

Sahire wird in diesem Schuljahr an der AHS maturieren. Danach möchte sie Psychologie oder Soziologie studieren. Ihr Vater wartet schon darauf. „Früher war für ihn die Matura das Mindeste“, sagt die 18-Jährige und lacht. „Jetzt ist es das Studium.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.09.2009)

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