Berater Domisch: "Finnland packt Fehler an"

Berater Domisch Finnland packt
Berater Domisch Finnland packt(c) Michaela Bruckberger
  • Drucken

Rainer Domisch, Berater von PISA-Spitzenreiter Finnland, im "Presse"-Interview über die Gesamtschule, Differenzierung und den Ernst des Schullebens.

Die Presse: Warum ist Finnland so gut bei PISA?
Rainer Domisch: Die Ergebnisse sind das Resultat jahrzehntelanger Arbeit. Perfekt ist das finnische System auch nicht. Aber wir wollen uns verbessern, obwohl wir gut sind. Wir entwickeln die gemeinsame Schule genauso weiter wie die Stundentafel. Wir werfen überholte Inhalte schneller und mutiger über Bord, wir haben uns vom gegliederten Schulsystem verabschiedet, das aussiebt. Wir packen Fehler an. In Österreich oder Deutschland fällt mir auf, dass man zwar sagt, insgesamt sind wir bei PISA mäßig. Aber dort, wo man innerhalb eines Landes besser ist, sagt man gleich: Wir sind ja doch hervorragend. Man lehnt sich teilweise zurück.


Welche Schulorganisation braucht es?

Es braucht größtmögliche Verantwortung am Schulstandort. In Finnland wird von oben nur der Rahmen mit den Lernzielen und Aufgaben verordnet. Zweitens werden schlechte Schüler nicht automatisch von guten getrennt. Man weiß, dass der sozioökonomische und kulturelle Hintergrund stark den Lernerfolg bestimmt. In Schulen in sozial schwierigen Gebieten braucht man mehr Experten, von der Sonderpädagogik bis zur Sozialarbeit. Gerade in Mitteleuropa kann man Migrantenkinder oft nicht so behandeln wie deutsche oder österreichische Kinder.


Sondern wie?

Sind in einer Gruppe mehr als 20 Prozent Kinder mit anderer Muttersprache, ist normaler Unterricht nicht möglich. Dann muss differenziert unterrichtet werden. Werden Migrantenkinder eine Zeit lang in Deutsch als Zweitsprache unterrichtet, ist oft mehr zu holen, als wenn sie in einer Gruppe mit den muttersprachlichen Kindern sitzen. In Finnland werden Kinder, die die Sprache kaum können, in der Vorschule 600 Stunden lang auf Finnisch gefördert. An der Volksschule werden sie dann auf mehrere Klassen aufgeteilt und individuell gefördert.


Wie werden Schüler optimal gefördert? Braucht es Leistungsgruppen?

In Finnland gibt es keinerlei äußere Differenzierung. Förderung und Motivation hängen nicht damit zusammen, dass die gut Lernenden von den langsamer Lernenden mit zehn Jahren getrennt werden. Die Förderung von Schülern gelingt mit Einzelförderung oder in Kleingruppen, die klassen- und auch jahrgangsübergreifend sein können. Das organisiert in Finnland die Schule.

Braucht Österreich in Ihren Augen eine gemeinsame Schule bis 14?

Ja, es führt kein Weg daran vorbei, Kinder nicht sehr früh zu trennen, sondern sie besser individuell zu fördern. Dazu kommt, dass Schule in Finnland nicht um ein Uhr zu Ende ist, sondern bis zum späten Nachmittag dauern kann. Das habe ich hier nie erlebt, dass Eltern Nachhilfe bezahlen müssen, weil in der Schule etwas nicht geleistet werden kann. Und trotzdem ist die Einstellung der Öffentlichkeit zur Schule sehr kritisch. Man sagt: Es muss noch besser werden. Ich glaube, das ist auch Antrieb für die guten Ergebnisse Finnlands.


Die Finnen nehmen PISA also sehr ernst? In Österreich wurde beim Test 2009 ein Schülerboykott ausgerufen, der die Ergebnisse wackeln lässt.
Ja, in Finnland zählt PISA etwas. Schule darf hier überhaupt nicht zu spielerisch sein. Hier muss zum Teil viel mehr gearbeitet und gelernt werden als in Österreich oder Deutschland, gerade weil die Schüler individuell gefordert werden.


Hat Finnland viele Neider wegen PISA?
Es ist eher so: Viele kommen und sagen, wir können eine Menge von euch lernen. Aber manche drehen sich im nächsten Moment um und sagen in die Kameras ihrer heimischen Sender: „Wir sind eigentlich genauso weit.“


Für wie aussagekräftig halten Sie PISA?
Es ist schon sehr wichtig. Aber man sollte weder in Euphorie verfallen, wenn man drei Plätze nach vorn kommt, noch hysterisch reagieren, wenn man einmal ein paar Plätze verliert. Es kommt darauf an, die Hintergründe zu beleuchten: Woher kommen die Ergebnisse? Und was geht noch besser? Wir Finnen sind zum Beispiel auch noch nicht zufrieden mit der schriftlichen Ausdrucksfähigkeit unserer Schüler, da muss man noch vieles tun.

Zur Person

Rainer Domisch, geboren 1945 in Schwäbisch-Hall, studierte Deutsch und Englisch. Ab 1994 war Domisch an Finnlands oberster Schulbehörde, am Zentralamt für Unterrichtswesen, beschäftigt, 2002 wurde er dort „Counsellor of Education“. Der nun pensionierte Experte hat SPÖ-Ministerin Claudia Schmied unter anderem bei der „Neuen Mittelschule“ beraten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 7.12.2010)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

PISAStudie Gruene fordern sechs
Schule

PISA-Studie: Grüne fordern sechs Sofortmaßnahmen

Der Grüne Bildungssprecher Harald Walser verlangt insbesondere mehr Personal in Kindergärten und Volksschulen. Die geforderten Maßnahmen würden rund 95 Millionen Euro pro Jahr kosten.
Schule

„Leseförderung ist weder zeit- noch kostenintensiv“

Buchklub-Geschäftsführer Gerhard Falschlehner rät den Eltern, ihre Vorbildwirkung ernst zu nehmen. Kinder sollen ihren Buchgeschmack selbst entdecken dürfen.
PISASieger Weiblich ohne
New Articles

PISA-Sieger: Weiblich und ohne TV

Akademikertöchter liegen im Ranking ganz vorn, Migrantenkinder ganz hinten. Die meisten der getesteten Schüler besuchen eine berufsbildende höhere Schule.
New Articles

Besser lesen von der Schweiz bis Pisa

Deutschsprachige Nachbarn. Die Schweiz hat nach dem PISA-Schock 2000 an fast allen Schulen Leseaktionen gestartet. Auch Liechtenstein und Deutschland liegen vorn.
Schulreform Michael Haeupl stellt
Home

Schulreform: Häupl stellt ein Ultimatum

Wiens Bürgermeister erwägt die Suche nach anderen Mehrheiten im Parlament, wenn die ÖVP ihre "Blockade" der Bildungsreform nicht bis Anfang des kommenden Jahres aufgibt.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.