Der sträflich geduldete Stillstand im Turnsaal

straeflich geduldete Stillstand Turnsaal
straeflich geduldete Stillstand Turnsaal(c) Clemens Fabry
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Schule und Sport: Österreichs Kinder verlieren die Lust an der Bewegung, eine landesweite Aufwertung der Turnstunden scheitert an der Schulautonomie. Dabei liefert eine IPAS-Studie alarmierende Erkenntnisse.

Wien. „In Österreichs Schulen gibt es so viele fette Kinder. Das ist erschreckend. Ich habe in den vergangenen zwei Jahrzehnten so viele Konzepte und auch gute Vorschläge gehört, aber nur sehr wenig wurde davon umgesetzt. Warum? Dabei gibt es bei uns eine so tolle Ausbildung für Sportlehrer, und Bewegung für Kinder ist das Um und Auf!“ Gunnar Prokop, der ehemalige Leiter des Südstadt-Internats und Sportinsider, ist angesichts fehlender Impulse für den Schulsport empört. Dabei wäre es doch ein Leichtes, Fachverbände und Vereine mit dem Schulsystem zu vernetzen, findet Prokop. Einen Fachmann in den Turnsaal zu stellen, der echten Spaß an Sport und Bewegung vermittelt, kann in Österreich doch kein Problem sein. Oder doch?

Die Problematik wurzelt in Österreich tief. Die fehlende Lust an der Bewegung entspringt zumeist im Elternhaus oder dem Freundeskreis. Dazu erschweren Schulautonomie, dicht gedrängte Stundenpläne, das Fehlen von naheliegenden Sportplätzen und Fachkräften den einfachen, direkten Zugang. Zusehends wächst parallel dazu für Jugendliche die Verlockung des Computers und des Fernsehers, einhergehend mit schlechter Ernährung. Die Folgeerscheinungen wie Fettleibigkeit, Konzentrationsschwäche, schlechtere Noten sowie die Gewissheit von Beschwerden oder Erkrankungen im späteren Leben sind bekannt – und werden zumeist akzeptiert. Es ist schließlich keine Mär, dass es in Wien zig Kindergartenkinder gibt, die keinen Purzelbaum mehr schaffen.

Im Rahmen einer Enquete der Sportunion, bei der die Thematik „Klasse in Bewegung. Bewegung ist Klasse“ diskutiert wurde, ließ Andrea Podolsky, Leiterin des IPAS-Instituts für Präventiv- und angewandte Sportmedizin in Krems, mit ihrer „Get-Fit-Kid“-Studie aufhorchen. In Niederösterreich wurden 1890 Schüler aus allen Schultypen im Alter von neun bis 20 Jahren in einem Zeitraum von eineinhalb Jahren zu Bewegung, Sport und Freizeitinteressen befragt, auch ihre Fitness wurde durchleuchtet. Das Ergebnis alarmiert: Mädchen machen 50 bis 60 Prozent ihrer gesamten Bewegung im Rahmen des Pflichtfachs „Bewegung und Sport“. Nur 29 Prozent der Mädchen bis 14 Jahre erreichen den international empfohlenen Bewegungsumfang von einer – in Zahlen: 1 – Stunde pro Tag. 19 Prozent aller niederösterreichischen Schüler sind übergewichtig, die Hälfte davon adipös. Dass ihre Umfrage auf ganz Österreich umzulegen ist, glaubt Podolsky auf Anfrage der „Presse“ zwar nicht. Für Ostösterreich seien die Zahlen jedoch repräsentativ.

Angesichts dieser Auswertung ist nur schwer erklärbar, dass der Verfall der Bewegungskultur mit Schulautonomie, Grabenkämpfen mit der Gewerkschaft oder Strukturproblemen argumentiert und trotz des Aufschreis mancher Schulärzte hingenommen wird. Ohne der Politik und dem Zutun aller Sportverbände sei dieser Kampf jedenfalls nicht zu gewinnen, sagt Podolsky. „Bewegungskönnen muss Bildungsinhalt sein.“ Wie Lesen und Schreiben. Ein Lösungsmodell könnte dabei die Ganztagsschule sein. Dafür allerdings fehlt noch das Personal und eine Abstimmung der Lehrpläne mit diversen Sportvereinen.

Kein Purzelbaum, kein Spagat

Ein produktives Beispiel dafür liefert das finnische Schulsystem. Seit Jahren liegen die Finnen in PISA-Studien im Spitzenfeld. Ein Durchhaltevermögen, das großteils auch der sportlichen Kondition geschuldet ist. Das Erlernen von Koordination und Spaß an Bewegung sind Fixbestandteile im Lehrplan. Auch wird nicht erst in der Volksschule begonnen, sondern schon im Kindergarten wird mit speziellen Kinderprogrammen wie „Muuvit“ – das Lernen und Wohlbefinden miteinander verknüpft – gearbeitet. In Deutschland und der Schweiz wurde es ansatzweise übernommen, in Österreich bleibt das Streben nach der täglichen Turnstunde nur ein frommer Wunsch.

Im Rahmen der „Fit für Österreich“-Welle läuft das für Kinder besonders geeignete „Ugotchi“-Projekt. 45.000 Kinder folgten bereits dem Ruf des „gelben Kükens“, um Sport auszuüben. Was dem Bildungswesen allerdings weiterhin fehlt, ist der Schulterschluss aller Beteiligten. Wer aber keinen Purzelbaum mehr beherrscht, der schafft auch keinen Spagat.

Auf einen Blick

Österreichs Schulkinder bewegen sich zu wenig. Es gibt zu wenig Turnstunden, die Vernetzung zwischen Schulen und Vereinen ist lückenhaft. Auch fehlen Fachkräfte, die Spaß am Sport vermitteln. Eine IPAS-Studie lieferte alarmierende Ergebnisse. 19 Prozent aller niederösterreichischen Schüler sind übergewichtig, die Hälfte davon adipös.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.09.2011)

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