Männerdomäne Campusroman: Vom Aussterben bedroht

(c) (Clemens Fabry)
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Der Campusroman ist fixer Bestandteil der Literatur. Aber erleben Studenten nach Bologna überhaupt noch genug Abenteuer, um einen Roman füllen zu können?

Der Universitätscampus ist ein Königshof. Ein Souverän regiert über die Herrscher von Fachgebieten, die Studenten stellen das gemeine Volk. Zwischen Hörsälen und Professorenzimmern entspinnen sich Affären und Intrigen, verbale Schwertkämpfe entscheiden über Macht und Vorherrschaft. Besonders pikant: Fast nirgends sind sich Herrscher und Beherrschte näher, sprechen doch Professoren ihre Studenten, deren Leistung sie schließlich beurteilen, gern als „Kollegen“ an. Der Campus ist ein Mikrokosmos und als solcher bietet er ein herrliches Panorama für Autoren. Hofprotokollar dieser Reiche ist der Brite David Lodge. Mit „Ortswechsel“ („Changing Places“), „Kleine Welt: eine akademische Romanze“ („Small World“) und „Saubere Arbeit“ („Nice Work“) schrieb er die wohl bekanntesten Campusromane. Da wird nicht nur philosophiert, sondern viel rumgemacht – und meistens ist das hochkomisch. Schließlich gilt das Genre als humoriger und oft satirischer Gegensatz zur intellektuellen Tätigkeit der Hirnarbeiter.

Bald drei Jahrzehnte sind seit dem Erscheinen von Lodges Romanen vergangen. Die europäischen Universitäten wurden seitdem auf Effizienz getrimmt. Ist da überhaupt noch Platz für all die Irrwege und Abenteuer, die eine Romanhandlung ausmachen? Nein, urteilt das deutsche Nachrichtenmagazin „Spiegel“. Es unterstellt den europäischen Bildungsministern, 1999 im norditalienischen Bologna nicht nur das europäische Hochschulsystem vereinheitlicht, sondern auch ein literarisches Genre getötet zu haben. Vor lauter fleißigem ECTS-Punkte-Sammeln bleibe Studenten keine Energie mehr für unvernünftige Dinge wie Liebeleien und Experimente. So böten sie keinen Stoff mehr für gute Geschichten.

Tatsächlich erlebt der Campusroman in den vergangenen Jahren alles andere als eine Hochblüte, ganz besonders im deutschsprachigen Raum. Aber „das gilt für die deutschsprachige Literatur schon immer“, sagt Michael Rohrwasser, Literaturprofessor an der Universität Wien. Er erklärt sich das mitunter damit, dass Uni-Angestellte Klauseln zur Verschwiegenheit unterschreiben müssten. „Im Betrieb schreibt man nicht und in der Rente ist man zu träge“, so der Literaturwissenschaftler. Daraus habe sich eine – typisch deutsche – Unterkategorie des Genres ergeben: der „Gastprofessorenroman“, so Rohrwasser. „Da ist die Hemmung nicht da. Man muss sich nicht zurückhalten.“ Ein solcher Roman stammt vom Schriftsteller Martin Walser. In „Brandung“ verarbeitete er seine Erfahrungen als Gastdozent an der US-Eliteuniversität Berkeley und am Middlebury College in Vermont. Unter der kalifornischen Sonne blüht der deutsche Protagonist kurzfristig auf, während seine Kollegenschaft im europäischen Winter verwelkt.

„Diese Campuswelt gibt es hier nicht“

Eine klassische Universitätsstadt wie Berkeley ist Paradebeispiel für den entscheidenden Unterschied zwischen Europa und dem angloamerikanischen Raum: Der geografische und architektonische Aufbau bedingt den für diese Romangattung so fruchtbaren Mikrokosmos. „Das ist vielleicht der springende Punkt“, sagt Rohrwasser. „Dass es die Campuswelt hier so nicht gibt.“ Auf einer amerikanischen Uni „stolpert man auf Schritt und Tritt über die Kollegen“, erzählt Wynfried Kriegleder vom Wiener Germanistikinstitut, der selbst in den USA gelehrt hat. „Alle meine Kollegen leben über Wien verstreut.“ Einen klassischen Campus gibt es in Wien nicht. Noch nicht. Mit der Adaptierung des Alten-AKH-Areals und neueren Großprojekten wie der neuen WU im Prater wird auch hier eine „Campusisierung“ betrieben. Eine Rolle spielt sicher auch die Nähe zwischen Professoren und Studenten. Die ist an den Eliteuniversitäten, häufig Schauplatz der Romane, zwangsläufig größer als an Massen-Unis wie Wien. Wenn in Kursen nur vier, fünf Studenten sitzen, kennt man einander natürlich besser. Von diesem intensiven Kontakt und dem, was daraus entstehen kann, lebt der Plot.

Affären zwischen Universitätspersonal, vor allem aber zwischen Professoren und Studentinnen (ja, in dieser Geschlechterverteilung) bilden den Kern von Campusromanen – oder Campusepisoden in Romanen. In Philip Roths „Der menschliche Makel“ muss der Hauptprotagonist die Universität verlassen, nachdem ihn eine Kollegin fälschlicherweise der sexuellen Belästigung bezichtigt hat. Bei Roth ist das nur ein Nebenstrang. „Der Campus“ des deutschen Bildungsexperten Dietrich Schwanitz stellt einen solchen falschen Vorwurf ins Zentrum. Der 1998 von Sönke Wortmann verfilmte Bestseller gilt als erster richtiger Campusroman der deutschsprachigen Literatur. Dabei hat Schwanitz seinen Plot selbst stark an ein US-Vorbild angelehnt, an Tom Wolfes „Fegefeuer der Eitelkeiten“, das er schlicht ins Hamburger Hochschulmilieu verlegt hat.

Dass Professoren nicht immer empfänglich für die Avancen von Studentinnen sind, zeigt der Roman „Wonder Boys“ von Michael Chabon, 2000 gelungen verfilmt. Katie Holmes beißt sich darin die Zähne an Michael Douglas aus. Inzwischen gerät die Uni-Affäre ohnehin immer mehr zum Tabu. Die Elite-Uni Yale hat Sex zwischen Dozenten und Studenten gar vertraglich verboten.

Noch seltener als die Konstellation Professorin/Student sind in dem Genre Autorinnen. Eine Ausnahme: Francine Prose mit „Blue Angel“ (Titel und Handlung spielen auf die Heinrich-Mann-Verfilmung „Der blaue Engel“ von 1929 an), bisher nicht übersetzt. Darin geht es – wieder – um eine Studentin und einen Professor. Hier werden jedoch die Machtverhältnisse umgedreht. Ebenfalls um Feminismus bemüht ist der erste Wiener Campuskrimi, „Vatermord“ von Isabel Bernardi aus dem Vorjahr. Unter diesem Pseudonym schreiben eine Veterinärmedizinerin und ein Philosoph im Kollektiv. In dem Krimi selbst stirbt ein Institutsvorstand eines gewaltsamen Todes. Maßgeblich am Machtkampf ums Erbe beteiligt ist eine ehrgeizige Professorin.

Studenten spielen nur Nebenrollen

Abgesehen davon ist der Campusroman ein männlich dominiertes Professorengenre – mit Nachwuchsproblem. Junge Romanciers lassen ihre Geschichten lieber abseits des akademischen Lebens spielen. Vielleicht fehle ihnen das Interesse an dem Schauplatz, weil Hochschulen an Bedeutung verloren haben, mutmaßt Rohrwasser. „Früher hat man mit der Universität gekämpft und gerungen“, erzählt er. „Heute erwarten sich die Studenten nicht mehr, dass die Uni sie zu einem anderen Menschen macht. Für sie ist das eine Durchgangsstation. Die nährenden Brüste der Alma Mater sind nicht mehr so attraktiv.“

Dem Genre zu neuem Aufwind verhelfen könnte ausgerechnet Bologna, spekuliert Kriegleder. Weil die Studenten mobiler sind. Nicht umsonst reimt man im studentischen Kontext „Erasmus“ auf „Orgasmus“. Vielleicht heißt der Campusroman der Zukunft ja „Wilhelm Bachelors Wanderjahre“. Oder – man denke an die verwinkelten Gänge der Institutsbibliotheken – „Fifty Shades Of Staubgrau“.

Auf einen Blick

Das Genre Campusroman existiert sein
den 1930er-Jahren. Die Themenvielfalt ist groß. Das Einzige, was alle Campusromane gemeinsam haben: Sie spielen auf der Universität.

Berühmte Campusromane sind „Gaudy Night“ (1935) von Dorothy Sayers, David Lodges Campustrilogie (siehe Tipp rechts) oder die deutschen Universitätsromane „Der Campus“ (1996) und „Der Zirkel“ (1998) von Dietrich Schwanitz. Elemente des Campusromans finden sich auch in Jonathan Franzens „Die Korrekturen“ (2001) und in Romanen John Irvings.

Im Subgenre Campuskrimi erschien jüngst ein Roman, der in Österreich spielt: „Vatermord: Der erste Wiener Uni-Krimi“ (2012) von dem Autorenkollektiv Isabel Bernardi.

Auch in Kino und Fernsehen ist der Campus ein dankbarer Schauplatz, etwa im Drama „Wonder Boys“ (2000), der dreiteiligen Thriller-Serie „Skulls“ (2000 bis 2004) oder in der Comedy-Serie „Greek“, die seit ihrem Start 2007 auf vier Staffeln gekommen ist.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.02.2013)

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