Akademikermangel als „große Irreführung der jungen Menschen“

Interview. Bildungsforscher Arthur Schneeberger über Berufsaussichten: „Viele junge Akademiker haben Schwierigkeiten, ihre angeblich so seltene Qualifikation umzusetzen.“ Durch den behaupteten Akademikermangel entstehe eine starke individuelle Schuldzuschreibung.

Die Presse: Sie haben Philosophie studiert. Hat Ihnen das beruflich genutzt?

Arthur Schneeberger: Ich habe in einer Zeit abgeschlossen, in der es noch wenig Sozialwissenschaftler gab und es möglich war, sich durch die Wahl der Dissertation in eine bestimmte Richtung zu bewegen. Es war damals sicher leichter.

Wie steht ein Philosophieabsolvent heute da?

Er muss extrem gut sein. Ein Betriebswirt kann auch durchschnittlich sein. Für ein Fach, das eigentlich kein Berufsfeld hat, gibt es eine wahnsinnige Konkurrenz um die wenigen Stellen innerhalb und außerhalb der Hochschulen. Bei solchen Studien glauben viele, dass es nur um Gutes und Schönes geht und es keine Konkurrenz gibt. In Wahrheit gibt es hier die größte Konkurrenz, weil es ja eigentlich keine Posten gibt. Jeder muss sich seine Stelle selbst schaffen.

Warum sind trotz fehlenden Berufsbildes die Geisteswissenschaften so beliebt?

Die Studienwahl entsteht wie jede Wahl laut psychologischer Theorie aus den Interessen und dem, wozu man sich für fähig hält. Man darf die Studienwahl nicht zu stark von dem abstrahieren, was jemand sich zutraut. Da spielt unsere höhere Schule eine Rolle. Interessen und Fähigkeiten werden wenig entwickelt im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich. Und die Unis bieten keinen Übergang an.

Sie fordern ein Studieneingangsjahr?

Kein Jahr, sondern Schnittstellenarbeit. Eines der Probleme unseres Hochschulsystems ist die Illusion, dass jeder Maturant alles studieren könnte. Die sehr anspruchsvollen Studien an der TU starten extrem schnell und da gehen Leute, die durchaus Interesse hätten, sofort wieder.

Liegt das auch am Schulsystem?

Sicher auch. Unser Uni-System ist ausgelegt auf den wissenschaftlichen Nachwuchs. Aber höchstens 30 Prozent der TU-Absolventen kommen später in einen Bereich, in dem man dieses Niveau braucht.

Die anderen sind überqualifiziert?

Hochschule hat immer einen gewissen Anteil an Überqualifizierung. Das ist auch sinnvoll so, weil es keine punktgenaue Qualifikation geben kann. Aber bei uns ist die Überqualifizierung extrem hoch. Unser Uni-System kommt aus einer Zeit, in der die Hauptaufgabe die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses war. Aber damals studierten nur acht Prozent.

Wo kommen Absolventen wirtschaftsferner Studien unter?

45 Prozent sind immer noch im öffentlichen Dienst. Durch Befragungen der Arbeitgeber weiß man, dass es keine Tradition gibt, dass Absolventen wirtschaftsferner Studien in die Wirtschaft gehen. Die Absolventen wollen das auch nicht. So wie in den USA, wo jemand Geschichte studiert und dann in die Finanzwirtschaft geht, das haben wir nicht.

Sind diese Studenten bei uns wirtschaftsfeindlich?

Wirtschaftsfern. Wenn jemand hier Geschichte studiert, dann will er eben nicht Buchhalter werden. In den USA Geschichte zu studieren heißt nicht, dass man Historiker werden will. Ich habe die Studenten in Harvard gefragt: Warum macht ihr Literatur, Geschichte, Theater? Ihr wollt doch alle an die Spitzen der Unternehmen. Die sagen: „Wenn wir im Bachelor schon Buchhaltung machen, zeigen wir, dass wir nichts werden wollen.“ Man will dort nur die ethische Persönlichkeit demonstrieren. Public Speaking ist das Wichtigste.

Brauchen wir mehr Akademiker in Österreich?

Die Politik sagt, wir hätten einen Rückstand in der Quote. Aber viele junge Akademiker haben Schwierigkeiten, ihre angeblich so seltene Qualifikation umzusetzen. Es ist eine große Irreführung der jungen Menschen, ihnen einzureden: Es ist egal, was und wie du studierst, denn wir haben einen Rückstand. Das stimmt nicht.

Zur Person

Dr. Arthur Schneeberger ist Bildungsforscher in Wien. Er publiziert zur beruflichen Bildung, Hochschul- sowie Erwachsenenbildung und dem Qualifikationsbedarf im Beschäftigungssystem. 2010 verfasste er die Studie „Zwischen Akademikermangel und prekärer Beschäftigung“. Er forscht am Institut für Angewandte Soziologie in Wien, an der Uni Erlangen-Nürnberg sowie am Institut für Bildungsforschung der Wirtschaft (ibw). [ibw]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.02.2011)

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