The Quality of Mercy

Oder: Was hätten wir denn tun sollen? Über das Entstehen eines Films.

Tatsächlich beginnt ja alles mit dem Titel. "Mühlviertler Hasenjagd" war die zynische Bezeichnung der SS für etwas, was faktisch mit "bestialischer Menschenhatz" auch nur sehr ungenügend beschrieben ist. Die in der Nacht auf den 2. Februar 1945 aus dem Block 20 des KZ Mauthausen geflüchteten Menschen -  sowjetische Offiziere -  wurden von der SS gejagt und auf alle erdenkliche Arten zu Tode gebracht. Mehr noch: Die Bevölkerung der umliegenden Ortschaften und Märkte wurde aufgefordert, sich an dieser Hatz zu beteiligen.

Ich wollte nie, dass mein Film "Hasenjagd" oder "Mühlviertler Hasenjagd" heißt, und doch hat sich dieser Titel durchgesetzt, auch wenn er nicht der offizielle ist. Der deutsche Titel "Vor lauter Feigheit gibt es kein Erbarmen", Zitat aus dem stenografischen Tagebuch des Pfarrers von Pregarten aus diesen Tagen, ist wohl auch nicht das, worum es im Kern bei diesem Ereignis und im Film ging. Der für mich wirklich gültige Titel für das historische Geschehen wie für den Film ist der englische: "The Quality of Mercy", ein Zitat von Shakespeare, lässt sich nur sehr holprig übersetzen, trifft aber die Sache sehr genau. Es geht um die Qualität des Menschlichen, um die Qualität der Empathie gerade auf dem Prüfstand und im Kontext der grauenhaften Umstände.

Als ich 1984 bei Recherchen zu einem anderen Thema auf die Geschichte der "Mühlviertler Hasenjagd" stieß, war ich in hohem Maße irritiert: zum einen von der Ungeheuerlichkeit dessen, was sehr lapidar auf einer Seite im Museum von Mauthausen beschrieben war. Zum anderen aber, wie unbekannt und unerzählt diese Geschichte im Nachkriegsösterreich war. Das war wohl auch mein erster Anstoß, darüber einen Film zu machen, gerade weil diese Geschichte so verschwiegen wurde. Das Verschweigen ließ sich relativ einfach erklären: Die Opfer waren fast alle tot, die wenigen Überlebenden zurück in der Sowjetunion, und vor Ort hatte niemand Interesse, darüber zu reden. Auch die Täter in den Orten und Dörfern hielten es für opportun zu schweigen, und die vielen Unbeteiligten, aber auch jene, die geholfen haben, schwiegen, um den brüchigen Frieden in den Dorf- und Marktgemeinden nicht zu stören.

Film hat etwas mit Festhalten zu tun, schrieb Wim Wenders: die Welt, die Geschichte festhalten wider den Lauf der Zeit und das Vergessen. Ein gutes Motiv für einen Film, gerade bei einer solchen Geschichte, aber ist das alleine ausreichend? Ich hatte viel Zeit, darüber nachzudenken und zu recherchieren, denn es schien, als wollte den Film in Österreich niemand unterstützen ("nicht schon wieder", "will niemand mehr sehen" "ausgereizt" etc.), und die Finanzierung zog sich über zehn Jahre. Ich nützte die Zeit, wanderte - unterstützt von den Aufzeichnungen Peter Kammerstätters - rund um das KZ Mauthausen von Dorf zu Dorf, redete mit den Leuten über ihre Erlebnisse, fand verschlossene, aber auch offene Türen, hörte von bestialischen Morden, aber auch kleinen und großen Heldentaten und saß schließlich vor hunderten Seiten Recherchematerial. Aber wie daraus ein schlüssiges Drehbuch, eine stringente Filmerzählung machen?

Glauben an das Menschliche verloren

Ein Artikel in der "Zeit" über Rabbiner Rosenzweig aus Detroit kam mir zu Hilfe. Rosenzweig hatte eines der ersten Holocaust-Memorials in den USA errichtet. Und er wollte wissen, wie die Besucher darauf reagieren. Also verteilte er Fragebögen und machte bei der Auswertung die erschreckende Feststellung, dass über 90 Prozent aller Menschen nach dem Besuch der Ausstellung über den Holocaust zumindest temporär jeden Glauben an den Menschen, die Menschheit oder das Menschliche verloren hatten. Daraufhin baute Rabbiner Rosenzweig neben dem Holocaust-Memorial ein Institut für die Gerechten und Rechtschaffen, um die gesamte Bandbreite menschlicher Möglichkeiten darzustellen. Ein wunderbarer Gedanke - und für mich der Schlüssel zum Film über die "Mühlviertler Hasenjagd".

Ich hatte sie alle erfahren in den Recherchen, die kleinen und großen Geschichten von der Lust am Morden, der Brutalität und Bestialität, vom einfachen Wegschauen, von den hilflosen Gesten zu helfen, von den mutigen Akten der Verweigerung, sich nicht an der Hatz zu beteiligen wie etwa jener Schwertberger Gendarm, bis hin zur menschlichen Großtat der Familien Mascherbauer und Langthaler, unter eigner Lebensgefahr Flüchtende aufzunehmen und zu verstecken. Was ist das menschlich Mögliche - The Quality of Mercy - in einer Situation, in der für alle die Bedingungen gleich waren am Ende des Krieges: katastrophale wirtschaftliche Verhältnisse, rabiate SSler und Nazifunktionäre und eine kleinteilige soziologische Struktur, wo jeder jeden kennt? Angesichts der Bandbreite der Reaktionen gilt eines sicher nicht: "Was hätten wir denn tun sollen?"

Wahrscheinlich gilt auch nicht pauschal die Phrase, wie dünn doch die Decke der Zivilisation sei. Manchen scheint es vielleicht unangebracht, und doch ist gerade an diesen historischen Ereignissen eher wieder die Frage nach der menschlichen Freiheit zu stellen. "Jede Kultur beginnt mit der Wahrnehmung des Leidens des anderen", schreibt Johann Baptist Metz. Frau Langthaler beschreibt sehr eindrücklich in einem Interview ihre Gefühle, wie sie die Haustür für einen Flüchtenden öffnete. Es war die Qualität des Erbarmens für ein Gegenüber, das leidet.

Andreas Gruber ist Professor für Regie
und Drehbuch in München. Sein Film
"Hasenjagd - Vor lauter Feigheit gibt es
kein Erbarmen" (1994) erhielt zahlreiche
internationale Auszeichnungen.

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