Konrad Paul Liessmann: Theorie der Unbildung

"Theorie der Unbildung": Konrad Paul Liessmann bringt die schillerndsten Seifenblasen im Schaum aktueller Bildungs- und Wissenschaftsdiskus-sionen genüsslich zum Platzen.

Seit Anfang der 1990er-Jahre des 20. Jahrhunderts gerät Europa politisch, gesellschaftlich und kulturell in einen zunehmend dynamischen Veränderungsprozess, der so rasch und tiefgreifend ist, dass der Beobachter den Eindruck einer Epochengrenze gewinnt. Das bürgerliche Zeitalter, das im 18. Jahrhundert mit euphorischen Erwartungen begann, im langen 19. Jahrhundert sich entfaltete und etablierte und im kurzen 20. Jahrhundert - im Zeitalter der Extreme - unterschiedliche Altersgeschichten erlebte, kommt am Beginn des 21. Jahrhunderts rasch zu seinem Ende.

Der Weltgeist ist erwacht und hat die Geschichte, die sich in Europa nur langsam bewegte und in den Nischen des Eisernen Vorhanges hüben und drüben fast ganz zum Stillstand gekommen war, wieder in Gang gebracht. Die über 35-Jährigen merken das an und in ihrer Lebensgeschichte, die über 40-Jährigen können sich mit dem Blick
auf den Unterschied leichter einen Begriff von diesen Veränderung machen, die unter 30-Jährigen halten diese Dynamik für die normale Geschwindigkeit der Geschichte.

Die Welt wird unter den Vorzeichen einer neoliberalen Gründerzeit neu gemanagt und strukturiert; diese Neuordnung geschieht nach den Maßstäben ökonomischer Rationalität und Effizienz. Das Projekt der Aufklärung und der Moderne, das heute 50- bis 70-jährige europäische Intellektuelle in seiner letzten Phase (1965 bis 1990) noch aktiv mitgestaltet haben, scheint endgültig an seinem Ende angelangt. Der prominente Soziologe Pierre Bourdieu (1930 bis 2002), der in seinen Hauptwerken das in seiner Bildungsbeflissenheit stets auch dünkelhafte Bürgertum kritisiert hatte, war in seinen letzten Lebensjahren mit den neuen Bedrohungen der Globalisierung konfrontiert und forderte eine neue europäische Aufklärung.

Konrad Paul Liessmann, einer der pointiertesten und klarsten Intellektuellen des deutschsprachigen Raumes, hat mit seinem Essay, der immer wieder zu einem scharfzüngigen Pamphlet gerät, einen präzisen Befund der Entwicklung vorgelegt, in der sich Bildung, Wissen und Wissenschaft als Derivate der skizzierten Ökonomisierung der Welt heute befinden. Aus der Perspektive des Aufklärers Liessmann ist der Befund der sogenannten Wissensgesellschaft ebenso klar wie niederschmetternd: Er zeigt sich als Phänomenologie der Unbildung, deren Inhalte, Duktus und Gestus von ihm auf
den theoretischen Punkt gebracht werden.
In neun Kapiteln werden die schillerndsten Seifenblasen im Schaum aktueller Bildungs- und Wissenschaftsdiskussionen - Bologna, Pisa, Exzellenzförderung, Uni-Rankings, Leistungsvereinbarungen und Evaluierungen - genüsslich zum Platzen gebracht.

Für den Autor ist der Bildungsbegriff der Aufklärung der archimedische Punkt seines Räsonnements. Liessmann kommt in seinem Text immer wieder darauf zurück: Bildung soll das Programm der Menschwerdung durch die geistige Arbeit der Individuen an sich und an der Welt sein; Bildung als Formung und Entfaltung von Körper, Geist und Seele, von Talenten und Begabungen, die den Einzelnen zu einer entwickelten Individualität und zu einem selbstbewussten Teilnehmer am Gemeinwesen führen soll.

Auch die Kritikpunkte seiner Überlegungen sind klar und scharf formuliert und kratzen am Lack aktueller Hochglanzbegriffe und -broschüren. Themen, Qualifikationen und Verständnisleistungen werden, wenn sie im Hinblick auf kapitalträchtige Verwertung dysfunktional erscheinen, zurückgedrängt. Im Wissensmanagement geht es - so Liessmann - nicht um Bildung, sondern um Wissen, das wie ein Rohstoff produziert, gehandelt, gemanagt und entsorgt werden soll. Wissen wird nicht nur zum Schmieröl im Getriebe der (Sozial)Ingenieure, sondern auch zu einem Moment der Unterhaltungsindustrie. In den Rankings ortet er Symptome einer Zwangsneurose: Sachverhalte werden nicht im Hinblick auf ihre Inhalte und ihre Aussagekraft bewertet; vielmehr muss, was immer in den Blick kommt, sofort gereiht werden. An die Stelle der weltbürgerlichen Haltung des Gelehrten tritt der Fetisch der Internationalisierung, der den um den Erdball jettenden Wissenschaftsmanager zu einer neuen Leitfigur stilisiert.

Den Geistes- und Kulturwissenschaften, die für Reflexion und Kritik der Gesellschaft sorgen könnten und sollten, wurde es zum Verhängnis, dass sie ohne großen materiellen Aufwand betrieben werden können. Sie agieren daher mit vorauseilender Submission. Und in der Tat, auf meine Frage nach einem Titel für eine Diskussion über die gegenwärtige Bedeutung der Geisteswissenschaften wurde mir von den - exzellent qualifizierten - Kollegen der Vorschlag gemacht: "Warum Geisteswissenschaften?".

Liessmann konstatiert mit Befremden, dass sich Professoren, die einst unter staatlicher Garantie souverän und frei forschen konnten, widerstandslos in ein gleichermaßen rigides wie hybrides Produktions- und Kontrollkonzept eingliedern lassen. Statt dass sie die Reformprozesse ihrer Universitäten selbst strukturieren, delegieren sie diese Aufgabe an die Unternehmensberatung mit ihrer "mitunter bis zur Karikatur aufgeblasenen Gestik". Die Willfährigkeit von Universitätslehrern gegenüber dem neuen Management lässt Liessmann am Widerstandsgeist von Wissenschaftlern insgesamt zweifeln, die offensichtlich blind sind gegenüber einer Ideologie, deren kritische Demontage zu den Hauptaufgaben gesellschaftswissenschaftlichen Wissens gehören würde.

Zu fragen ist, warum und wie sich Liessmann in einer Gesellschaft der toughen Wissenschaftsmanager trauen kann, so deutlich gegen den Stachel der allgegenwärtigen Wissensmanagement-Phraseologie zu löcken. Einerseits ist er Nutznießer der mageren Restbestände akademischer Freiheit, andererseits verfügt er über jene intellektuelle Brillanz und rhetorische Überlegenheit, die besonders in der Eventgesellschaft zu jenen Assen gehören, die weder von der alten Gelehrten- noch von der neuen Consulterweisheit gestochen werden.

Konrad Paul Liessmann: Theorie der Unbildung

Die Irrtümer der Wissensgesellschaft. 176 S., geb., € 18,40 (Zsolnay Verlag, Wien)

Geboren 1949 in Wien. Historiker an der Universität Wien. Seit 1984 für die Förderung von Wissenschaft und Forschung verantwortlicher Referent der Stadt Wien. Zuletzt erschien bei Picus "Anfang und Ende der Egomanie" (mit Horst-Eberhard Richter).

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