Ludwig Fels: "Ich halte es aus"

"Im Bad half sie ihm beim Entkleiden, drehte sich um, als er die Pumpe abnahm. Er hockte sich in die Dusche, schwitzte heftig. Als ihn der Wasserstrahl traf, begann er vor Erschöpfungs und Dankbarkeit zu zittern." Beginn des Romans "Reise zum Mittelpunkt des Herzens".

Er hatte sich in den Besuchersessel gesetzt, und sie hatte auf dem Bettrand Platz genommen, ob wohl die Schwester kurz zuvor dagewesen war und das Bett frisch bezogen hatte, so warteten sie beide auf Jack.

Er sieht gut aus, dachte sie, so wie sie ihn liebte. Und dann sagte sie es ihm.

"Du siehst auch gut aus", sagte er.

Die Schwester kam herein und schaute nach, ob sie schon gegangen waren. "Wie kann es einem hier nur so lange gefallen", sagte sie freundlich.

"Wir sind gleich weg", sagte er.

"Sie werden uns fehlen", sagte die Schwester und schloss die Tür hinter sich.

"Jetzt wird alles gut", sagte er.

"Ja", sagte sie, "alles wird gut! Erschrick nicht, draußen scheint die Sonne, die Vögel singen, und wie! Du hältst es nicht aus."

"Ich halte es aus", sagte er.

"Wo nur Jack bleibt", sagte sie.

"Er war noch nie pünktlich", sagte er.

"Aber heute", sagte sie, "einmal im Leben!"

Sie sah zur Tür, und er folgte ihrem Blick. Dr. Olsen kam herein, er lächelte sie beide an und sagte, Jack habe angerufen, ihm sei etwas dazwischengekommen. "Ich würde Sie gerne fahren", sagte Dr. Olsen, "aber es geht leider nicht. Die Termine, Sie verstehen!"

"Tom, Linda", sagte er, als sie an ihm vorbei- und hinausgingen. Sie trug die Tasche mit seinen Sachen, und er hängte sich bei ihr ein. Dr. Olsen begleitete sie bis zum Lift, drückte den Knopf.

"Tom", sagte Dr. Olsen, "Sie wissen, was ich Ihnen wünsche!" Er nickte, und Linda sagte schnell: "Danke, Doktor, er weiß es!" Sie sagte es so schnell, weil die Lifttür aufglitt. Dr. Olsen lächelte bis zuletzt.

"Also erschrick nicht", sagte sie, als sie hinunterfuhren, "die Sonne scheint, die Vögel singen. Und alles ist voller Taxis!" Es war wirklich ein Kinderspiel, ein Taxi zu kriegen, die Welt war voller Taxis, und die meisten standen hier, auf dem begrünten Parkplatz des Hospitals, und einen Moment sah es so aus, als seien alle nur wegen ihm gekommen. Es war ein wunderbares Gefühl, nicht warten zu müssen. Die Sonne und das Gepiepse der Vögel, das alles passte wunderbar zu diesem Gefühl.

"Wir haben Zeit", sagte sie, als sie saßen.

Ihr Fahrer drehte sich nach ihnen um, lächelte wie Dr. Olsen. Tom mochte ihn sofort. Er war jemand von der freundlichen Sorte Mensch aus irgendeinem ferneren Teil der Welt, wo Linda und er noch nie gewesen waren und den Jack sicher gekannt hätte. Als sie vom Parkplatz herunten waren, ließ der Fahrer ganz leise Musik laufen, und die Musik hörte sich an wie ganz leiser Regen, der durchs Licht fällt. In einer Kurve sank Tom gegen Linda, hielt sich an ihr fest, küsste sie. Seine Augen fühlten sich groß und wach an. Manchmal kam ihm die Stadt draußen bekannt vor, und dann sagte er es ihr und dem Fahrer, hätte es auch Jack gesagt, dass er immer wieder das Gefühl hatte, schon einmal hier gewesen zu sein - Jack, der sich weiß Gott überall auskannte. Er schloss vor Glück die Augen. Ihr Atem neben ihm klang nah, wie die rollende Brandung eines sanften Ozeans, und er spürte das Herz der Welt in sich schlagen; es fühlte sich gut an, unterwegs nach Hause zu sein, die Erde war die Heimat von Sonne, Mond und Sternen, und er lebte gerne hier. Er lehnte sich zurück, und der Wagen schaukelte und ruckelte auf den Asphaltrillen.

Sie bat den Fahrer, direkt vorm Gartentor anzuhalten, und der Fahrer lenkte den Wagen so dicht ans Trottoir, dass der Vorderreifen an der Bordsteinkante entlangmahlte, kurz hochschnellte und der Seitenspiegel durch das gen Himmel strömende Blau des Hibiskus stieß, der an der Pforte wuchs. Dann hatten sie ein kleines Problem mit dem Trottoir, das für Tom im Moment zu hoch lag, aber der Fahrer stieg mit aus, fasste ihn unter und half ihm hinauf. Ziemlich atemlos sagte Tom zu Linda, der Fahrer habe seinen Job besser gemacht als jeder Bergführer im Hoggarmassiv. Er schaute dem davonfahrenden Taxi hinterher, und der Fahrer hupte, als er unten am Ende der Straße abbog. Ein paar Hibiskusblüten lagen wie kleine, blaue Spiegel auf dem Pflaster. Die Nachbarn standen wie zufällig hinter den Fenstern. Linda ging mit ihm zum Haus, wartete nach jedem Schritt auf ihn.

Nebenan bastelte der junge Cazzanelli an seinem Wagen herum, hörte aber sofort auf, Krach zu machen, als er bemerkte, wie schwer es Tom fiel, den Weg zum Haus zu gehen und wie oft seine Schritte aus dem Rhythmus kamen; er drehte sogar das Autoradio ab und rief "Hallo", und Tom rief "Hallo" zurück, aber man hörte ihn kaum, die Vögel waren lauter. Als Linda die Haustür aufschloss, sah sie, dass er eine Blüte vom Hibiskus mitgenommen hatte.

Das Haus war wie eine Wand aus weißem Papier, in das die Jahre die Schatten seiner Bewohner gebrannt hatten. In den Räumen herrschte der unverkennbare Geruch von Liebe und Arbeit, vermischt mit den gewöhnlicheren Dingen des Lebens wie Essen und Wäsche. Mabel, ihre Tochter, die einzige, lebte seit fünfzehn Jahren mit einem südafrikanischen Schriftsteller in Tasmanien und behauptete, sie sei zu glücklich, um ihnen zu schreiben. Für Tom lagen die Zimmer jetzt weit voneinander entfernt, das ehemalige Kinderzimmer im oberen Stockwerk hinterm begehbaren Ende der Welt; es wäre zu beschwerlich gewesen, überall anwesend sein zu wollen. Linda unternahm ihre zeitraubenden Wanderungen durch die angesammelten Besitztümer ihrer Existenz, und es schien ihr nichts auszumachen, dass sie regelmäßig zurückfand zu ihm. Vornübergebeugt folgte er ihr, eine Gestalt, die sich selbst ganz und gar zur Frage geworden war.

Im Bad half sie ihm beim Entkleiden, drehte sich um, als er die Pumpe abnahm und sie mit dem Tragegurt auf die Waschmaschine legte. Er hockte sich in die Dusche, schwitzte heftig. Als ihn der Wasserstrahl traf, begann er vor Erschöpfung und Dankbarkeit zu zittern.

"Gut so?"

Er hob den Kopf, ließ sich das warme Wasser in Augen und Mund laufen. Ein paar blaue Blütenblätter kreiselten im Abflusssieb. Sie trocknete ihn ab, zärtlich wie ein Kind, war glücklich, dass er noch alle seine Haare hatte, auch wenn sie über der Narbe ein bisschen borstig nachgewachsen waren. Sein Bart war so dicht und weich und erinnerte sie, wenn sie ihn streichelte, an den Pelz eines kleinen Tieres, das sich vom Spielen ausruht.

Linda hatte zwei Matratzen in Toms Arbeitszimmer geschafft und mit Laken bespannt. Es war Jacks Idee gewesen, auch Dr. Olsen hatte die Idee gefallen. Sie fragte ihn, welche Matratze er haben möchte. Er legte sich auf jene, die näher am Fenster war. Er wollte sich nicht mehr bewegen. Lag da und schaute auf die andere Matratze neben sich. Und dann schaute er weg, und sein Blick suchte das Fenster.

"Du kannst alle beide haben, wenn du magst", sagte sie.

"Hast du gehört?", fragte sie nach einer Weile.

Er nickte, und sein Kopf rutschte vom Kissen; es tat ihr leid. Die WDG/PAUSE-Taste der Messagemaschine blinkte grün, ein fahles Auge. Jack redete:

Hallo, Linda, hallo Tom! Hier spricht Jack! Tut mir leid, dass ich nicht kommen konnte. Ich musste in den Zoo, ein Gorillababy fotografieren, die Mutter wollte nicht warten mit der Geburt, und die Zeitung wollte das Junge ganz frisch und blutig. Wenn ihr diese Nachricht hört, bin ich hoffentlich schon auf dem Weg zu euch, und ich hoffe, ihr seid zu Hause, wenn ich antanze. Falls es unpassend sein sollte, sagt es mir bitte, meine Nummer habt ihr. Meine Nummer habt ihr doch, oder? Hört mal, ich bedauere es zutiefst, dass ich nicht die Zeit hatte, euch im Hospital abzuholen, aber das Baby wollte nicht mehr länger warten. Aus dem Bauch in den Käfig! Man könnte glatt ein Philosoph werden. Ach ja, Linda, Tom, ich möchte euch fotografieren! Und, wie gesagt, tut mir leid und bis gleich!

"Auf Jack ist Verlass", sagte Linda.

"Er ist treu", sagte er.

"Was heißt treu?"

"Wir warten auf ihn, und er vergisst uns nicht", sagte er, "das nenne ich treu."

"Nicht alle haben das Glück, einen Freund zu haben", sagte Linda.

"Einen treuen Freund wohlgemerkt", sagte er.

"Wohlgemerkt", ahmte sie ihn nach. "Freust du dich, oder freust du dich nicht?"

"Lass mich nachdenken", sagte er.

Sie kam und setzte sich neben ihn auf die Matratze, beugte sich mit gerunzelter Stirn über ihn und gab ihm einen Kuss. Von draußen war eine Sirene zu hören, monoton und kalt.

Mit einem Mal ging Linda oben an der Zimmerdecke, und Dr. Olsen lief auf Händen auf ihn zu.

Wie fühlen Sie sich heute, Tom?

"Hm."

Hm ist keine Antwort, Tom!

"Warum gehn Sie auf Händen, Doktor?"

Stehn Sie auf, und machen Sie's mir nach, Tom!

"Sie wissen, dass ich das nicht kann!"

Das ist das wenigste, was Sie nicht können, Tom!

"Doktor Olsen", sagte er, "Sie werden es mir nicht glauben, aber ich hab im Spiegel eine nackte Frau gesehn. Sie war ganz nackt. Ist das normal? Sie versuchte, mich zu küssen, und sie versuchte, mir etwas zu sagen - was, weiß ich nicht. Nur ihre Lippen bewegten sich, und sie tat, als würde sie tanzen. Unter ihr und hinter ihr alles blau, wie Wasser auf Bildern. Ich hab sie gesehn, Doktor, ich schwör's Ihnen, ich hab sie gesehn. Das war keine Fantasie. Das war keine Halluzination. Das war eine nackte Frau. Der Spiegel hängt neben der Tür. Man sieht ein Stück vom Fenster im Spiegel. Aber sie war nicht draußen vorm Fenster, sondern im Spiegel, vollkommen und von Kopf bis Fuß. Sie hat sich umgedreht, und sie hat sich bewegt. Am Anfang dachte ich, sie hätte Ähnlichkeit mit Linda. Man kann sich doch nicht mit seiner eigenen Haut verkleiden, Doktor, oder? Wissen Sie, ich dachte, jetzt, mein Lieber, ist es so weit. Und dann dachte ich, so schlecht ist das doch gar nicht, mit einer nackten Frau im Spiegel und dieser hübschen Erinnerung an sie. Ich bin die ganze Zeit so dagelegen, Dr. Olsen. Irgendein Blatt sirrte draußen im Wind, und der Vorhang bauschte sich wie beim ersten Ton einer stürmischen Musik. Ich glaube, Linda war aus dem Zimmer gegangen - fragen Sie sie, ich weiß nicht mehr, warum. Ich hatte ein bisschen geschlafen und hab sie im Schlaf festgehalten, wie ich es immer tue, vielleicht weil ich Angst davor habe, sie im Schlaf zu verlieren. Ich streckte also die Hand nach ihr aus, es tat weh, aber ich streckte sie trotzdem aus, wollte eine Berührung, eine Erklärung. Manchmal müsste man mehr träumen als leben, Dr. Olsen. Linda hatte gesagt, Jack werde vorbeikommen, und ich dachte die ganze Zeit: Was, wenn Jack kommt und diese nackte Frau im Spiegel sieht? Was, wenn sie keiner Erfindung meines Gehirns entspringt? Da tat die Frau auf einmal so, als würde sie mich fotografieren. Machte all diese Gesten und Verrenkungen im Spiegel, Sie wissen schon, als wäre sie mit einer unsichtbaren Kamera zugange. Sie sah blendend aus und fotografierte mich hingebungsvoll. Sie fotografierte meinen Blick. Es klingt lächerlich, aber ich machte schnell die Augen zu, weil sie nackt war und weil ich ihre Nacktheit gesehn hatte. Und dann hörte ich ihre Stimme, hörte ihre Worte wie durch die Lider hindurch, während sie vermutlich weitere Bilder von mir machte und sich beugte und streckte, zitternd im kalten, grellen Glas des Spiegels. Sie sagte, ich glaube, sie sagte: Jack kommt dann vorbei, er möchte uns fotografieren."

Dr. Olsen entfernte sich, rückwärts auf Händen gehend.

Ärzte wie Dr. Olsen operierten fantastisch. Sie transplantierten Flügel und Flossen, jahrtausendalte Gehirne und Schädel, Räder an die Knie, Kufen an die Ellbogen. Er lachte, und Linda fragte, was los sei.

"Nichts", sagte er.

Sie ließen Jack auf dem Anrufbeantworter reden und reden.

Tom, Linda, nochmal Jack!, sagte Jack. Hoffe, ihr habt ein nettes Taxi bekommen, eins mit einem netten Fahrer! Natürlich kann kein Fahrer so nett sein wie ich, und so gut fahren wie ich kann auch kein Fahrer, aber das Trinkgeld hat er sich hoffentlich verdient. Wäre wirklich gerne dort gewesen, um euch abzuholen, und ihr dürft mir glauben, ich wär's gewesen, der am lautesten getönt hätte: Danke, wir brauchen kein Taxi! Jack fährt nämlich! Jack und nur Jack! Und nur Jack allein weiß, wohin! Und nur Jack kennt den Weg nach Hause in- und auswendig, auch wenn er gar nicht dort wohnt, dieser Jack! Ich steck im Stau, Freunde! Mittendrin! Idioten hinten, vorne, links und rechts, o Gott! Gott sei Dank gibt's keine fliegenden Autos, sonst wären die Idioten auch noch über mir! Nicht fluchen, Jack, nicht fluchen, sei ein braver Junge! Dein Freund Tom ist auch ein braver Junge! Alles ohne Murren und Klagen, soll ihm erst mal jemand nachmachen! Tom, Linda, ihr wartet doch auf mich? Die Leute fahren, als hätte man ihnen das Gehirn geklaut. Na ja, groß kann die Beute nicht gewesen sein. Ich schaffe es, keine Angst, ich schaffe es! Rrroooaaarrr! Wie geht's euch? Alles okay, Tom?

Gute Frage, dachte er, wie betäubt von der Leere, die Jacks Stimme hinterlassen hatte. Er schlief ein, und noch während er einschlief, wachte er schon wieder auf, und es war immer noch hell im Zimmer, sehr hell und sehr früh, und das Licht war wie eine tönende Masse, die gegen das Fenster drückte. Er träumte und ließ die Augen offen, lag auf dem Rücken, und blaues Geäder, das sich in alle Himmelsrichtungen erstreckte, durchzog die Decke, während er immer weiter, immer tiefer sank und einen milchigen Geschmack im Mund bekam, der leicht klebrig war und ihn am Rufen hinderte. Er spürte den Gurt um seinen Bauch, der eine Spur zu stramm gespannt war, sonst spürte er nichts, war dankbar dafür.

Ludwig Fels, geboren 1946 in Treuchtlingen, Deutschland. Lebt seit 1983 als Schriftsteller in Wien. Bücher: u. a. der Roman "Mister Joe", Luchterhand Literaturverlag. Sein Roman "Reise zum Mittelpunkt des Herzens" kommt nächste Woche bei Jung und Jung heraus.

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