Martin Pollack: Sarmatische Landschaften

Das Bauen von Nationen. Ostmitteleuropa. Nur Schrott- platz für gebrauchte Ideen aus dem Westen, wie Andrzej Stasiuk meint? Martin Pollack hat Autoren aus dieser Weltgegend gefragt – Nachrichten aus einem Zwischenreich.

Wer oder was ist Sarmatien? Und wo liegt es? Ich bin dem Wort im Warschauer Nationalmu seum zum ersten Mal begegnet, beim Betrachten der Porträts polnischer Adeliger aus dem 18. Jahrhundert in "sarmatischer" Tracht. Verwegene Gesellen waren das, orientalisch-bunt gekleidet, mit langen Haarschöpfen auf den kahl geschorenen Schädeln und gewaltigen Schnauzbärten. Das war die Mode zur Zeit der polnischen Adelsrepublik, anknüpfend an das kühne Reitervolk, das in grauer Vorzeit in jener Gegend gelebt haben soll. Der antike Kosmologe und Geograf Ptolemäus nannte "Sarmatien" das Land zwischen Weichsel und Don.

Kaum eine Weltgegend ist dem hiesigen Normalbürger fremder als diese. Nicht mehr ganz Polen, noch nicht ganz Russland, ein Zwischenreich zwischen West und Ost, in dem sich im vorigen Jahrhundert die Grenzen immer wieder verschoben und neue Nationen gebildet haben, die immer noch nach ihrer Identität suchen. Die Ostgrenze der Europäischen Union teilt es neuerdings mitten entzwei. Aus diesem "Zwischeneuropa" kommt jetzt der Sammelband "Sarmatische Landschaften". Die Autoren sind Schriftsteller der jüngeren Generation, alle nach 1945 geboren.

Was haben sie uns, den Nachbarn im Westen, zu berichten? Wer jene Länder als Reisender besucht hat, fällt von einer Überraschung in die andere, denn er findet in dieser authentischen Quelle manche Eindrücke bestätigt, manche aber auch widerlegt. Nehmen wir die Ukraine, in deren Westen man sich als Österreicher ganz gut auszukennen meint. Die Westukraine - das ist das einst habsburgische Galizien mit seinen schönbrunnergelben Amtshäusern, die Heimat von Joseph Roth, mit ihren vielfältigen Erinnerungen an die goldenen Zeiten unter dem guten Kaiser Franz Joseph. Stimmt - und stimmt auch wieder nicht. Der Historiker Jaroslav Hrytsak bescheinigt dem "österreichischen Experiment" und der Entstehung einer multiethnischen "galizischen Identität" gewisse Erfolge, vor allem, was die Rechtsstaatlichkeit, die guten Straßen und die Eleganz der Kaffeehäuser angeht. Aber mindestens ebenso stark waren und sind die nationalen Bewegungen, propolnisch, prorussisch oder proukrainisch. Die Patrioten trugen um 1848 gern die "Konfederatka", das viereckige Barrett, das an die polnischen Aufständischen erinnerte, später aber mit Vorliebe die ukrainische Kosakenmütze aus Schaffell.

In diese Tradition stellt sich die Kiewer Autorin Oksana Sabuschko mit einem Text über die orange Revolution von 2004. Sie beschreibt die Jungen, die in jenen aufregenden Tagen und Wochen auf einer Anhöhe über dem Majdan Platz pausenlos trommelten, auf Blechtonnen, die sie zu Trommeln umfunktioniert hatten. "Sie wussten gar nicht, dass die Kosaken in der Saporosher Sitsch einst so zum Feldzug gerufen wurden. Das war die Kriegserklärung an alle, die sich im Regierungsgebäude versammelt hatten, und jeder verstand das, ohne Lehrbücher, allein vom Ton, der zurückkam aus den tiefsten Schichten der Erinnerung. Diesen Ton erkannte jeder und alle Autos hupten im selben Rhythmus. Ein Land, das bislang nur auf vergilbten Karten existiert hatte, Ucraina Terra Cossacorum, tauchte plötzlich wieder auf. Es war nicht wirklich verschwunden gewesen, es hatte einfach irgendwo auf dem Grund verborgen gelegen."

Terra Cossacorum! Die Kosaken! Sie sind für viele junge Ukrainer plötzlich wieder zu Identifikationsfiguren geworden, mit ihrer Aura von Demokratie, Freiheit und Unabhängigkeit. Das ist ein völlig anderer Blickwinkel als der uns besser bekannte aus der jüdischen Überlieferung. Für die Ostjuden der Schtetl waren die Kosaken und ihr berühmter Anführer Bogdan Chmelnicki das Synonym für die größte Katastrophe vor dem Holocaust, den antipolnischen Aufstand im 17. Jahrhundert mit seinen fürchterlichen Pogromen und der Ermordung von zehntausenden Juden. Aber für die Ukrainer ist Chmelnicki ein Held. Sein Reiterdenkmal beherrscht den schönsten Platz von Kiew.

Aber es gibt nicht nur diese romantisch-historisierende Auffassung von der sich neu bildenden ukrainischen Identität. Juri Andruchowytsch, einer der bekanntesten unter den ukrainischen Schriftstellern, zeigt uns eine andere, desillusionierte Einschätzung. Für ihn ist seine Heimat ein Territorium, "wo man völlig grundlos auf etwas stolz ist, worüber man sich grämen sollte - die Existenz zwischen Osten und Westen, ein Raum absoluter und existenzieller Unsicherheit". Andruchowytsch kommt aus der Westukraine und macht kein Hehl daraus, dass er sich von Europa enttäuscht und verraten fühlt. Als die Ukrainer sich gegen ihr autoritäres Regime erhoben, "hat uns Europa auf die Schulter geklopft - mehr nicht". Für ihn war die Osterweiterung der EU, die das mythische Sarmatien zerrissen hat, ein Schritt in einem Prozess, der Ostmitteleuropa und mit ihm seine heimatliche Ukraine immer weiter nach Osten drängt. "Eine schwere Sünde" nennt er das.

Wenn schon die große Ukraine mit ihren historischen Städten Kiew und Odessa, Lemberg und Czernowitz, Wiege der Christianisierung Russlands, mit "existenzieller Unsicherheit" zu kämpfen hat, wie erst Weißrussland, der Staat, den viele Westeuropäer nur mühsam auf der Landkarte zu finden wissen. Ist es überhaupt eine Nation? Gibt es eine weißrussische Sprache oder handelt es sich bei dieser nur um einen russischen Dialekt? Der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko ist nicht nur der letzte europäische Diktator sowjetischen Stils, er ist auch ein Mann, der national gesinnte weißrussische Schüler- und Studentengruppen schikaniert. "Als Weißrusse wird man nicht geboren, zum Weißrussen wird man", sagt der Minsker Philosoph Walantschin Akudiwitsch. Menschen, die Weißrussisch sprechen, sind auf jeden Fall eine Minderheit im Lande.

Neun Prozent geben Weißrussisch als Muttersprache an, sagt der Publizist Valer Bulhakau, gestützt auf eine einschlägige Umfrage. Weißrussisch sprechen vor allem konservative und wenig gebildete Bauern auf dem Land, aber auch die wenigen Oppositionellen, die dem Druck des Regimes auf Assimilation ans Russische widerstehen wollen. "Das große Problem der Weißrussen ist ihre Herkunft. Sie haben keine klare Antwort auf die Frage: woher komme ich?", schreibt Marius Ivaskevicius, der selbst zu drei Vierteln weißrussischer und zu einem Viertel litauischer Herkunft ist. Er fährt von Vilnius aus ins Nachbarland, um den Versuch zu unternehmen, "mein Blut zum Reden zu bringen". (Erfolglos übrigens. Das Blut schweigt.) Die oppositionellen weißrussischen Intellektuellen, die er trifft, tragen symbolische Pässe des Litauischen Großfürstentums mit sich, obwohl dieser Staat, der auch das heutige Weißrussland umfasste, schon im 16. Jahrhundert unterging. Sie wollen von Putins Russland nichts wissen und auch nichts von Lukaschenkos heutigem Weißrussland, sie suchen die Antwort auf die Herkunftsfrage in der fernen Geschichte. "Und bei einer Flasche Schnaps machen sie mir in Metaphern Vorwürfe", schreibt Ivaskevicius, "Belarus sei gleichsam ein verwundeter Partisan, der von seinen Waffenbrüdern (das heißt von uns, allen anderen Osteuropäern) auf der Flucht im Wald zurückgelassen wurde".

Auch Jan Maksymiuk, Weißrusse aus der polnischen Grenzregion Byalistok, macht sich auf die Suche nach seinen Wurzeln. Er beschreibt seinen Großvater, einen nach wie vor überzeugten alten Kommunisten. Großvater Maksymiuk war als zaristischer Untertan geboren, nach dem Ersten Weltkrieg befand er sich plötzlich, ohne sein Dorf verlassen zu haben, in der unabhängigen polnischen Republik und fühlte sich mit seinem orthodoxen Glauben und seiner weißrussischen Sprache als Bürger zweiter Klasse. 1939 kam das Dorf auf Grund des Hitler-Stalin-Pakts zur Sowjetunion und zwei Jahre später erschienen die Deutschen und machten die Gegend zu einem Teil des Großdeutschen Reiches. Und als der Krieg zu Ende ging, war Großvater Maksymiuk wieder Pole. Vier Staatsbürgerschaften in einem einzigen Leben und dazwischen ein Massaker der Deutschen an seiner ganzen Familie und die Deportation vieler Nachbarn ins Landesinnere der Sowjetunion.

In dieser Gegend am Rande Europas überlappen sich die ethnischen Grenzen. Überall gibt es nationale Minderheiten, Animositäten, unbeglichene alte Rechnungen. Kaum irgendwo anders haben Hitlers Einsatzkommandos so gewütet wie hier, dem "Ansiedlungsgebiet" des Ostjudentums mit seiner reichen Kultur, von der nach dem Krieg nichts mehr übrig war. Aber auch ukrainische, weißrussische, polnische Dörfer wurden zu hunderten niedergebrannt, die Einwohner getötet. Nach 1945 gab es im Grenzgebiet blutige Kämpfe zwischen Polen und Ukrainern, ein Stück Vergangenheit, das nach wie vor unbewältigt ist. Nach wie vor ist die Konkursmasse der zerfallenen Sowjetunion nicht zur Ruhe gekommen. Man baut Nationen, man sucht Identitäten.

Die jungen Autoren aus jenen schwer gebeutelten Ländern haben die Gegenwart im Blick, aber die Vergangenheit wirft ihre Schatten. Sie schreiben ohne Pathos und ohne Hass, nüchtern, manchmal witzig, oft desillusioniert. Andrzej Stasiuk, in Warschau geboren, in einem entlegenen Grenzdorf lebend, meint über die "Nachfahren der Sarmaten": "Sie leiden an einem Unscheinbarkeitssyndrom. In der Vergangenheit haben sie heroische Taten begangen, an die sich außer ihnen niemand erinnert. Sie haben Europa vor dem wilden Osten gerettet, während Europa sie selbst für den wilden Osten hielt. Sie boten den Türken und Tataren die Stirn, dem zaristischen und dem bolschewistischen Moskau - alles, damit Europa in Ruhe seine gotischen Kathedralen und seine Renaissancepaläste bauen und eine li-berale Wohlstandsgesellschaft entwickeln konnte. Während sie Europa gegen die Barbarei schützten, wurden sie selbst ein wenig zu Barbaren." Stasiuk vergleicht seine Heimatgegend mit einem der dort zahlreich vorhandenen Gebrauchtwagenmärkte. "Vor kurzem habe ich mir ein gebrauchtes Auto gekauft. Genauso mag ich die gebrauchten Ideen, die in mein Land ziehen wie vom Wind getriebene Wolken. Unterwegs verändern sie sich, verbrauchen sich, und wenn sie hier ankommen, sind sie eigentlich schon wieder unbrauchbar geworden."

Sind Europas östliche Randgebiete wirklich nur ein Schrottplatz für die gebrauchten Ideen aus den reichen Zentren? Mag sein. Aber wenn ich neue Literatur aus Westeuropa lese, habe ich oft das Gefühl: hier sind Leute, die gut schreiben können, aber eigentlich nicht viel Interessantes zu erzählen haben. Nicht so hier. Noch einmal Andrzej Stasiuk: "Hier in Sarmatien sind wir gewohnt, unser Leben mit dem Leben anderer zu vergleichen. Dadurch wird unsere Existenz uneindeutig. Gut möglich, dass wir im Lauf eines Lebens mehr erleben als die Menschen in Ländern, die auf die Frage nach ihrer Identität schon längst eine Antwort gefunden haben."

Martin Pollack (Hrsg.): Sarmatische Landschaften Nachrichten aus Litauen, Belarus, der Ukraine, Polen und Deutschland. 660 S., Ln., € 30,60 (S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main)

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