Mulisch: Ach, der steinige Weg nach innen!

Harry Mulischs großmäuliger Auftritt: "Archibald Strohhalm".

Wir schreiben das Jahr 1952. Die deutschsprachige Literatur steht unter dem Eindruck des Krieges. Die Schriftsteller sortieren die Wörter neu. Nachdem die Sprache gerade noch in den Dienst der Nationalsozialisten gestellt worden war, sollte mit ihr aufgeräumt werden. Die Stunde Null wurde ausgerufen, die Literatur des Kahlschlags erlebte ihre große Zeit. 1952, nach dem Kriegsroman "Wo warst du, Adam?", veröffentlichte Heinrich Böll den Satirenband "Nicht nur zur Weihnachtszeit", Ilse Aichinger hatte die Erzählsammlung "Rede unter dem Galgen" fertig gestellt, Paul Celan den Gedichtband "Mohn und Gedächtnis". In jedem Buch waren Erfahrungen aus dem Dritten Reich aufgehoben.

In dieser Zeit macht sich in den Niederlanden ein junger Mann an die Niederschrift seines ersten Romans. Die Debatten in der deutschsprachigen Literatur kümmerten ihn nicht, er schrieb einen existenzialistischen Thriller. Die Zeitgeschichte überließ er den Kollegen aus der Nachbarschaft. Er aber stieg in die unergründlichen Tiefen der Seele. Die Deutschen suchten die Wahrheit nicht länger in der Innenwelt. Wo die Außenwelt Druck machte, wo die Millionen Toten keine Ruhe ließen, hätte das als Flucht vor der rauen Wirklichkeit erscheinen müssen.

Dem 25-jährigen Harry Mulisch war Bescheidenheit fremd. Ein Hauch von Größenwahn umweht diesen Roman, in dem der Titelheld einen zunehmend vertrackten, steinigen Weg nach innen beschreitet. Am Anfang ist er ganz bei der Sache und macht als ideologischer Sittenwächter auf sich aufmerksam. Woche für Woche fängt eine Art Rattenfänger als Puppenspieler die Bewohner einer Kleinstadt, indem er ihnen simple moralische Botschaften mit auf den Weg gibt. Aus Protest über "ein faschistisches Prozedere" macht Archibald Strohhalm mobil gegen den Verführer, nimmt selber die Rolle des Künstlers an, um ein Gegenprojekt zu entwickeln. Von da an geht es bergab mit dem Rebellen. Er versteigt sich in seine eigene Welt, wird heimgesucht von einer "Ideen- invasion" und einer "Ideenflut", verliert den Bezug zu den Menschen.

Mulisch variiert die romantische Konzeption des Künstlers als gesellschaftsresistentes Wesen und schmückt sie aus mit philosophisch aufgeputzten Gedanken. Archibald Strohhalm denkt viel, und sein Autor räumt ihm bereitwillig den Platz ein, sich zu artikulieren, auch wenn ihm nur abgestandene Sätze aus zweiter Hand einfallen: "Mutlos sagte er zu sich selbst, dass die Worte wie ein alter hartgewordener Schwamm waren, der schon tagelang vor dem Haus im Rinnstein lag."

Der junge Harry Mulisch will um jeden Preis klug wirken. Deshalb legt er Spuren zu Philosophie, Literatur, Religion und Mythos, legt den Köder der Anspielung aus und flicht ein engmaschiges Netz, in dem sich bedeutende Namen und große Bücher fangen. Ein Verweissystem durchzieht diesen Roman, alles hängt mit allem zusammen, und in der Mitte des Netzes sitzt der Autor, der auf den Leser lauert, um ihn mit einer Ration Niedergeschlagenheit zu versorgen. Die eigentliche Leidensfigur, so ist es bei Mulisch zu lesen, ist der Künstler, der das Leid der Welt auf sich nimmt. Er ist der einsame Demiurg, der Schöpfer des Himmels und der Erde aus dem Geist der Fantasie. "Und plötzlich wird ihm die eisige Leere bewusst, die ihn umgibt, so dass sich in seinem Inneren Angst vor ihm selbst breit macht."

Ja, so sind sie, die Künstler: haltlose Taugenichtse, gequälte Statthalter einer höheren Macht, die sang- und klanglos den Himmel verlassen hat. Nein, es war kein großes Buch, mit dem Harry Mulisch die Bühne der Literatur betrat, aber für einen starken, großmäuligen Auftritt reichte es allemal.

Harry Mulisch: Archibald Strohhalm. Roman. Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens. 300 S., geb., € 22,10 (Hanser Verlag, München)

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