James D. Tabor: Die Jesus-Dynastie / Patrick J. Geary: Am Anfang waren die Frauen

Die Großfamilie Jesu, so die These James D. Tabors, ist die Keimzelle der "Jesus-Dynastie". Zu kurz kommt dabei die
Mutter. Die war nämlich, so Patrick J. Geary in seiner Untersuchung der Ursprungsmythen, eine starke Frau.

Buch der Sprüche 31,10: Eine starke Frau, wer wird sie finden? James D. Tabor heißt der glückliche Mann, Professor für Bibel-wissenschaft an der Universität von North Carolina (USA). Die Frau heißt Maria, Mutter Jesu, Gattin des Gelegenheitsarbeiters Josef, wohnhaft in Nazareth (Israel) vor 2000 Jahren.

Was Tabor über sie berichtet, ist zumindest für weibliche Ohren ein ziemlicher Hammer. Marias erste Schwangerschaft, so Tabor im Anschluss an die biblischen Geschichten, passierte vor der Eheschließung mit Josef. Nicht mit diesem habe Maria sich eingelassen, fährt Tabor fort, sondern eventuell mit einem aus Sidon gebürtigen Legionär namens Abdes Pantera, dessen Grabstein 1859 ausgerechnet in Bingerbrück (bei Bad Kreuznach, Deutschland) entdeckt wurde. Die Bogenschützenkohorte, in der Pantera diente, wurde im Jahr sechs nach Christus von Palästina nach Dalmatien und kurz danach in das Gebiet zwischen Rhein und Nahe verlegt, wo Panteras Grabstein in die Erde kam.

Eine kuriose Geschichte, meint Tabor, aber es kommt noch viel dicker. Josef, ein nachsichtiger Mann, verzieh seiner Verlobten, und Jesus erblickte das Licht der Welt. So steht es in der Bibel, und von ihr wird auch erzählt, Jesus habe vier (namentlich genannte) Brüder und auch Schwestern gehabt.

Über deren Vater liegt das Schweigen der biblischen Quellen, die sogenannten "verlorenen Jahre" zwischen Kindheit und öffentlichem Wirken Jesu, mit denen jedes der mindestens 20.000 Bücher über das Leben des Heilands der Christenheit zu kämpfen hat. Erst nach der Taufe Jesu im Jordan taucht Maria gelegentlich wieder auf, nie in der Begleitung eines Ehemannes, wohl aber gemeinsam mit den Brüdern ihres Erstgeborenen.

Die Großfamilie Jesu, dies die kühne These Tabors, ist die Keimzelle und das Fundament der weitgehend vergessenen und geleugneten "Jesus-Dynastie".

In der Kurzfassung geht das so: Nach dem Ableben seines Ziehvaters Josef, der ihm das Handwerk eines Bautischlers und Fliesenlegers beigebracht hatte, musste Jesus als Ältester seine Familie versorgen und fand Arbeit in der Stadt Sepphoris, wo es viel zu tun gab, eine Gehstunde von Nazareth. Im Frühsommer des Jahres 26 nach Christus fing Johannes der Täufer, mit dem Jesus mütterlicherseits verwandt war, in der judäischen Wüste nördlich des Toten Meeres so erfolgreich zu predigen an, dass auch Jesus aufmerksam wurde, sich ihm anschloss und während der Taufe im Jordan jene Stimme von oben hörte, die sein Leben veränderte.

Er begann, sich in seine Rolle als König in Jerusalem hineinzudenken, nach dem bevorstehenden Ende der römischen Weltherrschaft, an das viele Juden glaubten. Ab dem Sommer des Jahres 27 trat Jesus seinerseits als Prediger, Täufer, Krankenheiler und Exorzist auf. Als Rabbi Jeschu sammelte er einen Anhang von Männern und Frauen um sich, darunter seine Familie. Seine vier leiblichen Brüder kamen in den Rat der Zwölf, eine Art Schattenkabinett für die Zukunft, mit je einem Minister für die zwölf Stämme Israels. Nach der Enthauptung Johannes des Täufers im Jahr 29 musste Jesus mit dem Schlimmsten rechnen.

Er entschloss sich trotzdem zur österlichen Wallfahrt nach Jerusalem im Frühjahr 30, ließ sich zum König ausrufen und provozierte die Tempelverwaltung durch einen Krawall, indem er ein paar Tische umwarf, an denen die Geldwechsler saßen. Verhaftung, Kreuzigung, hastige Beisetzung und spätere Bestattung des Leichnams. "Ich glaube", schreibt Tabor, "wir müssen keinen Zweifel daran hegen, dass Jesus nach Vollstreckung der römischen Kreuzigung wirklich und wahrhaftig tot war und dass sein provisorisches Grab nach wenigen Tagen leer vorgefunden wurde."

Und dann? Dann erzählt Tabor seine Geschichte vom "Überleben und Wiederaufle-ben" der jüdischen Jesus-Bewegung in Palästina während der vier Jahrzehnte vom Tod Jesu bis zur Zerstörung Jerusalems als Chronik einer Sekte unter der Führung des Herrenbruders Jakobus und seines Nachfolgers Simon, der 106 nach Christus gekreuzigt wurde. Dabei wird klar, dass Sankt Paulus als Schulhaupt eines alternierenden - und schließlich erfolgreichen - Christentums zu gelten hat, während die "Jesus-Dynastie" als Hüterin der authentischen Lehren des erstgeborenen Sohns der Maria aus Nazareth so gründlich verdrängt wurde, dass ihre Archäologie erst jetzt ans Tageslicht kommt.

Einwände? Nicht viel mehr als die üblichen tausend Bedenken bei der Lektüre eines Buchs über Jesus Christus, also zwei oder drei pro Blatt. Wer von Irrlichtern wie Dan Brown ("Sakrileg") genug hat und vor dem Bleisatz der gängigen Fachliteratur zurückzuckt, aber trotzdem wissen möchte, was das Leben und die Lehre des Jesus von Nazareth heutzutage "wirklich" bedeuten könnten, wird sich Tabors Religionsunterricht auf jeden Fall unter dem Christbaum wünschen.

Der Verfasser ist nämlich nicht nur über Büchern gehockt, er ist mit seinen Studenten immer wieder nach Israel geflogen,
um mit dortigen Kollegen in der Erde des Heiligen Landes nach Spuren jener Zeiten zu suchen, in denen der christliche Heiland sein Evangelium predigte und den Tod erlitt. Tabor war dabei, als im Juni 2000 südlich der Altstadt von Jerusalem das Skelett eines Toten mit den intakten Resten des
zugehörigen Leichentuchs gefunden wurde, das sich in die erste Hälfte des Jahrhunderts datieren ließ, in dem Jesus gelebt hatte. "Der charakteristische feuchtmodrige Geruch, der solchen seit Tausenden von Jahren von der Außenwelt abgeschlossenen Räumen eigentümlich ist, drang uns in die Nasenlöcher", erzählt Tabor. Sein Fund war an Tuberkulose gestorben, wie sich herausstellte.

Schade. Immerhin ist in diesem Zusammenhang ganz nebenbei zu erfahren, dass ein geschickter Fälscher aus dem Mittelalter das berühmte Turiner Grabtuch Christi fabriziert hat. Am liebsten würde Tabor mit dem kompletten Inhalt jenes Familiengrabes aufwarten, in dem Jesus, Maria und Josef mit der restlichen Verwandtschaft jener "Dynastie" liegen, der sich das Christentum in Wahrheit verdankt. Dann könnten DNA-Analysen zweifelsfrei beweisen, wie "das Geflecht von Geschwister- und Mutter-Kind-Beziehungen" beschaffen war, mit dem der liebe Gott die Erlösung der Menschheit bewerkstelligte.

Leider verliert Tabor auf seiner Suche nach der verlorenen Zeit jene Person aus den Augen, die buchstäblich an ihrem Anfang stand - jene Maria, von welcher Jesus geboren wurde, der Christus genannt wird. So formuliert es das Evangelium nach Matthäus. Der Ehrgeiz einer eigenwilligen Frau, die in ihrem Kind den Thronerben Davids sah, war möglicherweise ebenso folgenreich wie die Bergpredigt.

Diese Sichtweise verdankt sich einer Studie über "Ursprungsmythen" des Mediävisten Patrick J. Geary, in denen Frauen die Hauptrolle spielen. "Dass Maria in den Stammbaum Jesu eingefügt wurde, widerspricht einem Grundprinzip patriarchaler Identitätsbildung", meint Geary.

Wie das passieren konnte, bleibt ungeklärt, es sei denn, man glaubt an Engel und Jungfrauengeburten. Skeptische Gemüter, die das Evangelium nicht mehr mit gefalteten Händen lesen, werden von Patrick J. Geary und auch von James D. Tabor ins Dickicht der Ahnenforschung gelockt, zur Lektüre von Stammbäumen gebeten und hernach im Regen stehen gelassen, wenn es um die Frage geht, warum die Geburt Christi so wichtig war, dass sich unser Kalender an ihr orientiert.

Tabor setzt bei seinem Lösungsvorschlag zwar auf das genealogische Prinzip, indem er den Beginn der christlichen Inspiration nicht auf ein einzelnes religiöses Genie zurückführt, sondern auf den Ältesten einer Familie, die nach dessen Tod die Führung übernimmt. Dabei bleibt der Autor ganz selbstverständlich patriarchalisch orientiert, ohne daran zu denken, wie wichtig die Erziehungsarbeit Mariens im Haushalt von Nazareth gewesen sein könnte.

Ein blinder Fleck? Zwar ist Tabor bereit, der Mutter Jesu die Organisation der Hochzeit von Kana zuzubilligen, aber er unterschlägt den groben Ton des Rabbi Jeschu im Umgang mit Maria: Weib, was willst du von mir? Worauf Maria in aller Ruhe zu den Kellnern sagt: Was er euch sagt, das tut!

Eine starke Frau. Tabor hat sie gefunden und gleich wieder vergessen. Geary wiederum ist sensibel genug, die beispiellose Aufwertung Mariens als Theotokos (Gottesgebärerin) auf dem Konzil von Ephesos (431) als Tendenz einer Textwelt zu werten, die von vornherein den Keim einer Abwertung männlicher Autorität in sich trug.

Ein Blick durch das Schlüsselloch des Häuschens von Nazareth ist das noch lange nicht, und auch keine Etikettierung des Christentums als veritables Matriarchat. Allenfalls im europäischen Mittelalter, so
Patrick J. Geary, waren mächtige und autonome Frauen "zumindest denkbar". Und was sich in der Heiligen Familie tatsächlich abspielte, hat keine Kamera festgehalten. Der Intimbereich des Ursprungs christlicher Weltfrömmigkeit bleibt geheimnisvoll, und das ist gut für den Buchmarkt. Die nächsten zehn Jesus-Titel sind sicher schon unter Vertrag. [*]

James D. Tabor
Die Jesus-Dynastie
Das verborgene Leben von Jesus und seiner Familie. Aus dem Amerikanischen von Giovanni Bandini. 444 S., geb.,  20,60 (C. Bertelsmann Verlag, München)

Patrick J. Geary
Am Anfang waren die Frauen
Ursprungsmythen von den Amazonen bis zur Jungfrau Maria. Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. 136 S., geb.,  18,40 (C. H. Beck Verlag, München)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.