Bomben in den Ohren

Seine Verse strotzten von Gewaltbildern, von Darstellungen einschneidender Methoden, wie man den Satten zu Leibe rücken könnte: die Lyrik des Walter Buchebner - und warum sie im Kanon der österreichischen Nachkriegsliteratur nicht vertreten ist.

Mitte der Fünfzigerjahre beschreibt ein junger Mann aus der Provinz sein Wien-Erlebnis in einem Gedicht: Das lyrische Ich, das hier Wien als "die Menschenfalle, in die ich gelaufen war", charakterisiert und so städtische Umgebung und individuelles Bewusstsein ineinander verschränkt - "eine schwärzliche Stunde der Welt im Novemberwind meines Daseins" -, dieses Ich, "gefangen und von Fäulnis müd", wurde nicht von Walter Buchebner entworfen, sondern von Thomas Bernhard, der, zwei Jahre jünger als Buchebner, in jenen Fünfzigerjahren ebenfalls sein Heil in der Bundeshauptstadt gesucht hat. Das Gedicht "In meiner Hauptstadt" findet sich im 1957 erschienenen Gedichtband "Auf der Erde und in der Hölle", in einem Abschnitt mit dem Titel "Die ausgebrannten Städte", der in Ton und Aussage starke Ähnlichkeit mit Buchebners Wien-Gedichten aufweist.

Walter Buchebner, den Richard Reichensperger unter die "großen Außenseiter" der österreichischen Nachkriegsliteratur subsumierte, wurde 1929 als Sohn eines Arbeiters in Mürzzuschlag geboren. 1945 entzog er sich der Einberufung zum Volkssturm durch Desertion. Nach der Matura in Bruck an der Mur zog er nach Wien und begann, Germanistik zu studieren. 1951 veröffentlichte er erstmals Gedichte in der Zeitschrift "Neue Wege". 1954 heiratete er eine Jugendfreundin und brach sein Studium ab. Er arbeitete unter anderem als Bauarbeiter, Fahrdienstleiter, Monteur, Telegrafist und Erzieher. Ab 1956 leitete er eine Wiener Städtische Bücherei. 1959 zeigten sich die ersten Symptome einer unheilbaren Nierenkrankheit. 1962 erhielt er den Theodor-Körner-Preis. In seinen letzten beiden Lebensjahren versuchte er sich auch in Tusche- und Ölmalerei. Trotz schwersten Schmerz- und Schlafmitteln konnte er schließlich nicht mehr arbeiten. 1964 nahm er sich das Leben. Erst posthum erschienen die von Alois Vogel besorgten Bände "zeit aus zellulose" (1969) und "die weiße wildnis" (1974), 1994 gab die Walter-Buchebner-Gesellschaft unter dem Titel "zeit aus zellulose" einen Auswahlband heraus.

Von seinem Werdegang her war Buchebner eine durchaus typische Erscheinung der jungen literarischen Szene. In nicht wenigen Gedichten der Fünfziger- und frühen Sechzigerjahre, namentlich in der Lyrik der aus den Bundesländern nach Wien Zugereisten, vermischt sich ein an die Zwanzigerjahre erinnernder antiurbaner Affekt mit einer aktuellen Kritik am Materialismus der Wiederaufbauzeit: Wien wird zur Chiffre des Unechten und der Verlogenheit. Buchebner gebärdet sich in dieser Hinsicht als Kind seiner Zeit, Wien erscheint bei ihm in allerlei allegorischen Verkleidungen als Hure des Kapitalismus, insbesondere des Tourismus.

Das Dekadenzsymptom Fäulnis wird auch hier moralisch interpretiert, allerdings gerät die Anklage zunehmend konkreter, fordernder, drängender, die konventionelle lyrische Metaphorik kollidiert mit prosaischer Deutlichkeit - etwa in "abends in wien": "abends in wien / stinken die verfaulten spitäler / die zu tod gewürgten politischen flirts / und durch die zeitungen geht / fetter selbstbetrug / die zuhälter reden über geschäfte / wirtschaft und integration / der himmel bläht sich / wie ein dorfwirtshaus / erstickt stoßen die wohnblöcke / ihre stumpfe nase / in stauberfüllte straßen / madenwolken und raupenmassen / schwemmt die windstille ins haus".

Im Unterschied zum jungen Bernhard konzentriert Buchebner seine Diagnose nicht auf das Bedeutungsfeld des Hungers, sondern auf das der Sattheit: Die Selbstzufriedenen, die Saturierten, die Wohlstandswahrer sind Zielscheibe seiner Attacke. Buchebners lyrischer Befund erscheint grosso modo unkonventioneller als der Bernhards, der sich etwa mit kalkulierter Provokation über "geschlossene Kirchen, geschlossene Bordelle, geschlossene Herzen" beklagt.

Buchebners ästhetisches Erweckungserlebnis hat etwas mit einer Stadt zu tun: mit Paris. Im Sommer 1960 verbringt er dort einige Wochen. Die Reise bewirkt, was seine begeisterte Beschäftigung mit französischer Literatur, von Paul Valery bis Sartre und Camus, nicht bewirkt hat - am 6. September notiert der Heimgekehrte: "Um 17 Uhr 15 entschließe ich mich, ab diesem Augenblick mit diesen sentimentalen Sterbe- und Liebesgedichten Schluß zu machen." Wien, die Stadt, in der Buchebner - zuerst als Hilfsarbeiter, dann als Bibliothekar - kümmerlich lebt, figuriert in der Folge als Zentrum einer Selbstsucht, die dem Ich den Schlaf raubt: "ich kann nicht schlafen wien / wenn du deinen honig selber frißt / und unter deinem schuh kochen / schmutz und langeweile".

Buchebner stimmt in den Chor der künstlerisch tätigen Provinzler ein, die Wien in seinem "unbegreiflichen wohlstands-provinzialismus" enttäuscht für provinziell erklären und sich nach Paris sehnen. Die Anziehungskraft des Nachkriegs-Paris auf die im Dritten Reich intellektuell ausgehungerte deutsche und österreichische Jugend war ähnlich stark wie jene, die heute von New York ausgeht. Bedeutsam war die Begegnung mit der Weltstadt Paris etwa auch für Hertha Kräftner und für Thomas Bernhard, der wiederum, freilich mit enthusiastischer Zustimmung, die französische Hauptstadt für seine Schlaflosigkeit verantwortlich macht: "Ich kann nicht schlafen, denn drei Millionen machen viel Lärm!" Verstärkt das Eintauchen in die Weltstadt einerseits den Komplex des provinziellen Herkommens, so bedeutet es andererseits eine geradezu schockartige Erweiterung des Horizonts. Bei aller Euphorie siedelt Walter Buchebner seinen poetischen Standort prägnant "zwei millimeter neben paris" an. Gelernt hat er dort jedenfalls, dass man nicht alles lernen kann, Fleiß und Wissbegier mögen nützlich sein, aber: "müßiggang ist aller dichtung anfang!"

Walter Buchebners Spätwerk, mit dem er seinen Rang in der österreichischen Lyrik der Nachkriegszeit begründet hat, ist geprägt von Aggression, von einer kaum unterdrückbaren Wut. Es enthält in der Hauptsache zwei Typen von Gedichten: zum einen die ironisch-satirische Vignette, in der Örtlichkeiten, Zeitereignisse, Personen beim Namen genannt und merkwürdig sperrige, überreizte, überspannte, nach herkömmlichem Empfinden "unlyrische" Formulierungen ausgestellt werden, etwa: "versorgt mit medikamenten und zynischer hoffnungslosigkeit". Oder: "nachts fällt taumelnd atheistischer schnee auf europas neurotische tennessee-williams-fluren". Auch die von den amerikanischen Beat-Poeten Ginsberg und Kerouac beeinflussten Hymnen in freien Rhythmen gehören hierher. Zum anderen gibt es das Gedicht in der Tradition des schlichten Vagantenliedes, von Fran§ois Villon bis etwa Jakob Haringer in den Dreißigerjahren, das individuelles Leid unsentimental zusammenfasst und zugleich den Außenseiter als Stachel im Fleisch der Gesellschaft vorführt. In "ich kann nicht schlafen wien" heißt es: "am liebsten möchte ich / bomben in deine ohren stecken / und eine handvoll granaten in deine suppe / und dann durch die hintertüre verschwinden / wenn ich dich nur anspornen könnte / dich stadt im fetten walfischbauch / warum hab ich nicht hunderttausend zangen / oder hunderttausend spitze dolche".

Buchebners Verse strotzen von genüsslich ausgemalten Gewaltbildern, von Darstellungen einschneidender Methoden, wie man den Satten zu Leibe rücken könnte. Zu dem, was heute in literarischer Hinsicht als für diese Zeit revolutionär gilt, ging Buchebner freilich auf Distanz, und das mag mit dafür verantwortlich sein, dass er im gegenwärtig gültigen Kanon der österreichischen Nachkriegsliteratur nicht vertreten ist: In seiner feindlichen Haltung gegen die "Wiener Gruppe", die er in seinem Tagebuch "die verrückte Gruppe" nennt, trifft Buchebner sich mit deren konservativen Kritikern. Ihm ist es nicht darum zu tun, sich gegen die Mitteilungsfunktion der Sprache aufzulehnen, er will die Gesellschaft attackieren, in der "adolf hitlers gespenst" umgeht, direkt, ohne philosophische Subtilität, und dazu sind ihm die bewährten sprachlichen Mittel gerade recht.

Wendelin Schmidt-Dengler hat jüngst gemeint, es gebe wenig österreichische Lyrik aus den Sechzigerjahren von ähnlich nachhaltiger Wirkung wie die Buchebners. Nicht zuletzt hätten sich seine "polemischen Ziele" (von der "etwas verwahrlosten universität" bis zum Parteienproporz) als haltbar erwiesen. Er habe sich nicht um die Form geschert, nicht kalkuliert, und es sei - bei der Intensität, mit der "die Bilder ausgeschüttet werden" - erstaunlich, wie wenig Peinliches ihm in seinem "Kampf um die Metapher" unterlaufen sei. Mit der Nachahmung des Beatnik-Sounds habe Buchebner sich als eine Art "Ginsberg über dem Gänsehäufel" etabliert.

Solch ironische Anerkennung verträgt sich durchaus mit dem Selbstbild des gereiften Lyrikers, der sich als "abendländischen halbintellektuellen" verspottet. Nichtsdestoweniger stilisiert das lyrische Ich sich auch ganz ernsthaft zum Rebellen par excellence. Noch seinen Tod bezeichnet Buchebner, ganz im Sinne von Albert Camus, als "meine totale revolte". Der zehn Jahre ältere Kollege Michael Guttenbrunner meinte über Buchebner: "Die Gedichte sind voller Gebärdenspiel und Gestikulation. Er übt Prophetenamt aus. Der Kessel steht unter größtem Druck, und er legt immer noch nach und faucht in die Flammen."

Mit Hochdruck betreibt Buchebner auch seine Annäherung an den Tod, die trotz allen Schreckensvisionen (etwa in dem "eisenmesser") zu einem Gutteil ein Werben zu sein scheint. "das sterben kommt wie ein stürmischer vers", heißt es da. Spät, aber doch wird auch ein Ton des Einverständnisses hörbar, da zieht ein Abgeklärter Bilanz: "so rück ich langsam vor / bis an die mauer von sankt marx / (. . .) sonst fällt mir nichts mehr ein zu tun / ich verbrenne meinen schreibtisch / denn der tag wird kalt".

Die diversen Vermutungen, Walter Buchebners Selbstmord im Jahr 1964 sei "der heillosen österreichischen Gemütlichkeit" (Karl-Markus Gauß) geschuldet oder dem Kulturbetrieb (Elfriede Gerstl), oder der Dichter sei schlicht "an Wien" gescheitert (Richard Reichensperger), verkennen wohl die individuell-existenzielle Dimension einer qualvollen Krankheit ebenso wie die Komplexität der Gründe, die einen Menschen in den Freitod führen, der schon früh vom Gedanken an Selbstzerstörung und Untergang besessen war.

Dem Klischee vom Opfer einer gewalttätigen Gesellschaft widerspricht Walter Buchebners Selbstbild, in dem neben der Revolte auch Gelassenheit angesichts der letzten Dinge Platz hatte: "ich der bürger von wien / dessen herbsttag sich auflöst wie ein stück seife".

Daniela Strigl
Geboren 1964 in Wien. Dr.phil. mit einers Dissertation über Theodor Kramer. Literaturkritikerin, Essayistin. Ihr Text erscheint in erweiterter Fassung Ende April in dem Band "Im Keller. Der Untergrund des literarischen Aufbruchs nach 1945" bei Sonderzahl.

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