Setzen, nicht genügend!

"Wer will / dass die Welt / so bleibt / wie sie ist / der will nicht / dass sie bleibt." Wie Erich Fried ins Leitbild eines Wiener Gymnasiums kam und dort zum Apologeten blinden Veränderungswahns wurde.

In Zeiten der maximierten Markt freiheit, in Zeiten von Marke tingherrschaft, Organisationsent wicklungsplänen und Leistungsvereinbarungen, in Zeiten, wo es dem einzelnen Arbeitnehmer nur zu oft an innerem Antrieb für seinen täglichen Broterwerb zu mangeln droht: In solchen Zeiten unterwerfen sich sogar Einheiten der römisch-katholischen Kirche Unternehmensleitbildern. "Möge es uns mit Gottes Hilfe gelingen", lese ich im Internet-Portal der Erzdiözese Wien, "mit diesem Leitbild unserem eigentlichen Ziel näher zu kommen: Jesu Christi Kirche zu sein nicht für uns selbst, sondern für die Welt, ohne uns selbst allerdings in dieser Welt zu verlieren." Mit Gottes Hilfe und mit diesem Leitbild - was die katholische Kirche hier noch sorgsam begrifflich voneinander trennt, scheint in weltlichen Institutionen regelmäßig miteinander in Deckung zu geraten. Am Ende des Leitbilds der Erzdiözese steht jenes Wort, das ich bei der Lektüre anderer Leitbilder nur zu oft im Geiste hinzugefügt habe, endlich ausgeschrieben: "Amen."

Auch jenes Wiener Realgymnasium, an dem ich vor sieben Jahren maturiert habe, hat sich in der Zeit nach meinem Abgang einem Entwicklungsprozess hingegeben und sich dabei ein Leitbild auferlegt, in dem es sich selber seines "Leistungsauftrags" und des "Zusammenlebens in der Schule" zu vergewissern versucht. Das im Internet verfügbare Dokument zeigt vier kleine Bildchen von Waagen, um die sich die (antagonistischen?) Begriffspaare "Konstanz/Veränderung", "Forderung/Förderung", "Lebensfreude/Einsatzbereitschaft" sowie "individuelle Entfaltung/soziale Eingliederung" ranken. Zwischen diesen Parametern soll, so die bestechende Bildsymbolik und der dann näher erläuternde Text, die Balance gesucht werden. (Nicht vollkommen besticht mich die Symbolik freilich: Neigen sich nicht alle vier Waagen ein wenig nach links, also jeweils dem ersten der beiden Begriffe zu?)

"In der Balance liegt die Chance", wird ein externer Berater aus der Schweiz zitiert, der den Schulentwicklungsprozess über Jahre hinweg begleitet hat. Zu Beginn jedes Schuljahres, heißt es weiter, sollen interne Zielvereinbarungen im Sinne des Leitbildes getroffen werden, denn: "Schulentwicklung ist ein zentraler Bestandteil unseres Schulleitbildes." Amen.

Bereits ein Jahr vor meiner Maturitätsprüfung erhielt mein Gymnasium einen eigenen Namen: den des vor seinem Zwangsexil in der Nähe wohnhaft gewesenen Erich Fried. Kein Auskommen einer Institution von heute, die auf sich hält, ohne einen klingenden Namenspatron, sei er tot oder lebendig. Freilich, es gäbe üblere Namensgeber für eine Bildungsstätte als den Dichter und Humanisten Fried. Und es gäbe schlechtere Beweise für die Richtigkeit der getroffenen Wahl als Proteste von Bezirksmandataren des rechten Randes, die sogleich halluzinierten, die Schule habe zuvor nach Franz Schubert geheißen (was tatsächlich Jahrzehnte zurückliegt), und die gegen den unbequemen Schriftsteller öffentlich zu Felde zogen, um stellvertretend für ihn seinen Geist ein zweites Mal auszutreiben.

Ein besonderes Anliegen der für das Leitbild zuständigen Steuergruppe sei es gewesen, so lese ich in einem Jahrbuch der Schule, "unseren Namensgeber Erich Fried zentral in unser Leitbild einzubinden." Wie nun also das?

Ein Gedicht des Autors wurde in das Leitbild integriert: "Status quo". Der Text: "Wer will / dass die Welt / so bleibt / wie sie ist / der will nicht / dass sie bleibt." Die bald zum Schulmotto erhobenen Verse lassen im Sinne der Ideologie - neudeutsch: Philosophie -, für die Unternehmensleitbilder stehen mögen, nichts zu wünschen übrig: geniale Parole, die den Bedarf nach fortwährender Entwicklung und Reaktionsfertigkeit in dem Rad des Wettbewerbs, in dem wir allesamt immerzu ums Überleben laufen müssen, prägnant festschreibt. Und der Überlebenskampf gilt in Jahren schwindender Schülerzahlen und einer Bildungspolitik, die dem schlechten nationalen Abschneiden bei der Pisa-Studie nicht etwa durch niedrigere Klassenschülerzahlen entgegenzuwirken gewillt ist, auch für staatliche Schulen. Das Gedicht, heißt es folgerichtig in einem Artikel im Schuljahrbuch, "vermittelt sehr klar und deutlich die Notwendigkeit von Veränderungen. Erich Fried spricht in diesem Text genau das an, was nicht nur für unsere Schule relevant ist. Denn wenn man die Qualität in den Schulen der Zukunft sichern will, dann muss man die Bereitschaft zur Veränderung haben."

Erich Frieds Gedicht "Status quo" könnte getrost als Vorlage jedes Unternehmensleitbilds dieser Welt weiterempfohlen werden, gäbe es nicht einen gewaltigen Schönheitsfehler: Es ist in falschem Zusammenhang zitiert. Der Schriftsteller dachte beim Verfassen seines Textes an ganz anderes, wie der im Leitbild des Gymnasiums ausgelassene Untertitel beweist: "Zur Zeit des Wettrüstens". Es ging Fried nicht um einen beliebigen und variabel einsetzbaren Status quo, für den ein pauschaler Veränderungsbedarf behauptet wird (für welchen sich dann wiederum des Dichters Worte als intellektueller Beleg anführen lassen sollen), sondern um den Status quo ante bellum: den Zustand vor dem Krieg (ein Begriff aus dem Römischen Recht), im Speziellen das Muster des nuklearen Patts des Kalten Kriegs, in dem das Verfügen über das Potenzial zur rechnerisch gleich mehrfachen Zerstörung der Welt zum weltpolitischen Strategem wird. Eine Situation, die den Fortbestand internationaler Machtverhältnisse ausgerechnet durch die technische Möglichkeit zur schlagartigen und völligen Zerstörung ihrer Grundlagen - der Welt als ganzer nämlich - sichern möchte.

Das im Gedicht erwähnte So-Bleiben ist dabei weniger auf den Zustand (Status quo) der Welt, der die Existenz von Atomwaffen einschließt, zu beziehen, als vor allem auf die weltpolitischen Verhältnisse, eben den Status quo ante bellum (Titel!), den die Wettrüstenden (Untertitel!) fixieren wollen: Sie sind diejenigen, die wollen und auch propagieren zu wollen, "dass die Welt / so bleibt / wie sie ist" - nämlich betreffend die globale Machtverteilung -, gerade indem sie zu jeder Zeit bewusst in Kauf nehmen, dass sie am Ende gar nicht mehr "bleibt". Diese absurde und brandgefährliche Politik greift Erich Fried gebündelt und plakativ an. Um den Text verstehen zu können, benötigt man freilich den Untertitel, der diesen Zusammenhang erst liefert. Und das Leitbild meiner früheren Schule liefert ihn eben nicht.

Wer feststellen muss, dass ein Gedicht jahrelang in einem öffentlich einsehbaren Leitbild stehen kann, ohne dass seine Verstümmelung bemerkt wird, könnte dahinter eine weitere seltsame Eigenheit von Leitbildern erblicken: dass sich kaum jemand ihrer eingehenden Lektüre unterzieht. Auch auf Schuljahrbücher mag das vielleicht zutreffen: Das Gedicht wurde dort über die Jahre mehrfach in den entlegensten Zusammenhängen zitiert, wann immer es um die Demonstration des eigenen Fortschrittsgeists ging. Und das ist das Bequeme - und Gefährliche - dieses Slogans, dass nämlich jede beliebige Änderungsmaßnahme damit ganz unkritisch argumentiert werden kann: die schulinterne Einführung der Fünf-Tage-Woche ebenso wie etwa der Start eines Schulversuchs namens "Modulare Oberstufe". Man müsse, so statuiert man einfach unter falscher Berufung auf den Dichter, die Welt ändern, denn wer gegen Änderungen sei, der fordere ihren Untergang heraus. Was sich Fried mit dieser doch seltsam anmutenden Behauptung gedacht haben soll (Autor in blindem Fortschrittsglauben? in paranoiden Apokalypsefantasien?) und inwiefern der Betrieb an einem Wiener Gymnasium mit dem Weltuntergang in Zusammenhang steht, lässt diese Zitierweise offen.

Eine Lehre, die mir in den vergangenen Monaten zuteil geworden ist: Urheber von Leitbildern verteidigen dieselben mindestens so erpicht wie ein Literaturwissenschafter die Literatur: Vor mittlerweile mehr als einem Jahr habe ich die Schulleitung auf den ursprünglichen Zusammenhang des Gedichts und die missbräuchliche Verwendung hingewiesen, die der Schluss vom Bedrohungspotenzial der Atombombe auf jenes von Sechs-Tage-Wochen oder herkömmlichen Oberstufenregelungen wohl darstellt. Vor fast einem Jahr ist im dortigen Jahrbuch ein Artikel erschienen, in dem ich sanft, aber bestimmt auf die Problematik hinweise. Vielleicht wurde auch der nicht gelesen. Ein für das diesjährige Jahrbuch bestimmter, noch penibler argumentierender Artikel durfte jedoch erst gar nicht erscheinen und musste daher ersatzweise im Internet veröffentlicht werden (www.dichtungsring.at). Der umfassende Veränderungswille der Schuldirektion scheint vor dem Leitbild und dem Motto des Hauses seine Grenze zu finden.

Der Vorsitzende des Elternvereins, seines Zeichens grüner Bezirksrat und Mitarbeiter der Internationalen Atomenergiebehörde - also, so hoffte ich, doppelt prädestiniert, die Problematik zu begreifen! -, schreibt mir ernstlich, er sei der Meinung, dass es "erlaubt ist, Wortgruppen aus dem Zusammenhang zu reißen und sie in anderem Kontext wieder zu verwenden". Dürfte ich demnach, so frage ich mich, ruhigen Gewissens den Satz "Scheint so, als ob da eine Dichtung über die Jahre hinweg verschlissen ist" samt Nennung des Urhebers als Motto über den vorliegenden Artikel stellen - zufällig in einer Internet-Newsgroup entdeckter Satz eines gewissen Thorsten K . . . vom 26. März 2006, 22:36 Uhr -, ohne darauf hinzuweisen, dass er nach der Intention seines Urhebers und in seinem ursprünglichen Zusammenhang nicht von hoher Dichtung im Allgemeinen und nicht von Erich Fried im Speziellen, sondern bloß von einem Defekt an einem Waschbeckenabfluss handelt?

Gutes Marketing überspielt eigene Fehler ebenso, wie es über Werk und Autorschaft anderer - und selbst noch des eigenen Namensgebers - mühelos hinwegschreitet. Ob das Falschzitat ursprünglich beabsichtigt war oder sich zunächst einem Irrtum verdankte, ist daher letztlich gleichgültig: Für die notwendige Selbstzurichtung für den freien Markt, die lebenslange Beschäftigung mit dem eigenen Leistungsvermögen, das pausenlose Arbeiten an Fitness und Konkurrenzfähigkeit wurde von den Entwicklern dieses Leitbildes die genialste Formel gefunden, die sich nur finden lässt. Die zum Mikrokosmos geschrumpfte Welt, diesfalls eine kleine Zelle des österreichischen Bildungssystems, muss in Sisyphusarbeit immerfort bearbeitet und weiterentwickelt werden, andernfalls sie in der makrokosmischen modernen Wettbewerbsdynamik unweigerlich unterzugehen droht: Wer will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, der will nicht, dass sie bleibt. Im Sog des Fortschrittszwangs nicht links noch rechts schauen zu können ist Teil dieses Spiels, in dem zwar nicht die große Welt selbst, wohl aber man selbst für die Welt von Anbeginn verloren ist. [*]

Unser Bild ist George Deems Band "Meisterklasse" entnommen, der bei Sanssouci, München, erschienen ist.

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