Der DJ des Vormärz

Backstage-Leben, Groupies, Massendirigate eines vor dem Podium fuchtelnden Publikums, Werbung, Marketing - und geniale Kompositionen: Johann Strauß Vater zum 200. Geburtstag - von der Erfindung der U-Musik.

HERZ-TÖNE-WALZER
Es ist schon wieder so weit! Datenzwang. Ein Jahresregent, ein Anlass. Und es geht schon wieder um einen Strauß. Nur wenig nach dem ersten Sohn dieses Vaters, auch ein Johann und 1999, sowie dem zweiten, Josef und 2003 (vom Herrn Lanner, 2001, erst gar nicht zu reden), rutscht der Dynastie-Begründer ins tägliche Rampenlicht. Die Philharmoniker aus Wien haben alles mehr recht als gut neujahrskonzertant einbegleitet. Ein paar Ensembles fühlen sich veranlasst, Musik vom Strauß-Papa quasi programmatisch in ihre Programme aufzunehmen. Im Fernsehen wird etwas zu zeigen sein. Die legendären Deutschen dort drüben und dort oben, denen gefällt er auch, dieses komische Ösi-Genie. Und sogar an einem Werkverzeichnis wird fleißig und zumeist recht unbedankt gearbeitet.

Im Österreich-Osten nichts Neues. Und die Stimmen werden sich regen und regen sich schon, besagend: "Bitte lasst uns nun endlich einmal in Ruhe mit den Gedenktagen, auch wenn eben nur mehr für solche Geld locker gemacht werden kann; bitte verschont uns langsam mit den Strauß-Feiern und zugleich mit dem schlechten Permanenz-Gewissen, angezüchtet ob unserer Doppel-Miesigkeit: im Wiedergeben und im richtigen Pflegen der Musik!"

Dabei geht es auch um einen Spiegel der Zeit, einer Zeit übrigens, die eine ganze Epoche der österreichischen und dann sogar der europäischen Geschichte darstellt. Nostalgieverbrämt.

TANZ-REZEPTE Es gibt viel über seine Herkunft zu lesen: Die Familie rekrutierte sich aus Zugezogenen, stammend aus Niederösterreich, Ungarn, den Wiener Außenbezirken. Der Vater des "Vaters" war ein verkrachter Gastwirt. Der Großvater des "Vaters" war jüdischer Herkunft (was das Berliner Reichssippenamt bekanntlich damals, so zum Antritt des "Tausendjährigen Reiches", dazu veranlasste, den Namen Johann Michael Strauß im Wiener Trauungsbuch zu entfernen; wie peinlich doch, der Herr Führer mochte nämlich die Musik der gesamten Strauß-Dynastie).

Allein - es gibt überhaupt nicht viel über Jugend, Entwicklung, erstes Künstlertum, Kompositions- und Geigenlehren des am 14. März 1804 geborenen Leopoldstädters zu berichten. Ja, eigentlich weiß man gar nichts. Eine Buchbinderlehre hat er begonnen. In Kapellen etwa des Wiener Musik-Alkohol-Genies Michael Pamer gespielt, beim drei Jahre älteren Lanner volontiert. Dieser Johann Strauß konnte - so bald seine Zeitgenossen - hervorragend, ja dämonisch Geige spielen. Er war schon Mitte zwanzig ein Podiumstar. Die Wiener Musikverleger, eine traditionell und bis dato höchst komplizierte und eigenbrötlerische Zunft, rissen sich bald um seine Musik. Aber wo lernte Johann Strauß die Violine, das Tonsetzen, das Entertainment? Zugegeben, es war eine gar nicht so üble Zeit für sein bald blühendes Gewerbe mit Weltmusik-Zuschnitt. Der Bub, dann der junge Vorstadt-Typ, Johann, er wuchs auf im Europa-Krieg Napoleons, als Wien von anderen Nationen durchflutet wurde und dann Nährboden für einen Kongress war, der Europa gültig bis heute strukturiert hat. Er sog wohl ein, was da alles auch an Musik und Habitus im Kielwasser des Kongresses nach Wien schwappte. Er spürte dann vielleicht schon bald in der eigenen Kunst, was es hieß, wieder unter ein Regime gezwungen zu werden, das als Vormärz nur mehr mit demjenigen der weiland DDR vergleichbar ist.

Strauß erlebte (auch wenn es kein einziges näheres Zeugnis dafür gibt), was Wiener Klassik und Romantik auch gewesen sind. Noch der Tod Haydns wird dem Kind schon bewusst gewesen sein. Beethoven war die lokale Größe und zugleich die fremde Galaxie. Mit Schubert-Musik wuchs er auf (und es gibt keinen Beleg für deren Rezeption außer die spätere Strauß- und Lanner-Musik selbst). Strauß, noch keine 18, erlebte den Rossini-Taumel Wiens, den Romantik-Aufbruch etwa mit Carl Maria von Weber, das Wachsen der Altwiener Volkskomödien und der Zauberspieltradition mit Musik sowie schließlich das Virtuosentum, gipfelnd in Niccol² Paganini, der hier begann, das Geigenspiel neu zu definieren.

Mit 25 ist Strauß selbst schon ein Wien-Star. Ziemlich genau wiederum 20 Jahre später ist er tot. Man wird dann von "Europas Musiker Nummer eins" sprechen. Und kein Geringerer als Hector Berlioz wird schreiben: "Wien hat einen seiner Lieblinge zu Grabe getragen. Strauß, der bleiche Balldirektor, dessen Orchester in den lustbewegten Ballnächten so viele glühende Melodien ertönen ließ, aus denen übermütig jauchzende Lust und schmachtend verlangende Leidenschaft auf zauberhafte Weise gesprochen, Strauß hat den Geigenbogen des Künstlers und die Feder des Komponisten für immer niedergelegt. Noch sehe ich ihn, wie er auf der Galerie des glänzenden Redoutensaales sein Orchester dirigierte, wie hunderte von schönen Wienerinnen, in bacchantischer Tanz- und Melodielust befangen, ihm taktmäßigen Gehorsam zollten."

War's wirklich so in Biedermeier und Vormärz? Die Erfindung eines eigentlich bereits schon Radikal-Disco-Verhaltens fand also in Wien statt? Vor allem gemacht vom Begründer der am berühmtesten gewordenen Dynastie überhaupt (die Habsburger und die Mings und die Kennedys und die Bachs mögen verzeihen), von ihm vorangetrieben gemeinsam mit dem kongenialen Joseph Lanner, mit andauernden Lieferungen von tatsächlich Neuer Musik, in Bedürfnisweckung und Bedürfnisbefriedigung und damit wieder neuer und geilerer Bedürfnisweckung, in frisch-erlaubter Körperlichkeit zwischen Mann&Weib&Weib&Mann?

DIE DÄMONEN (WALZER)
1825 machte er sich als Geiger und Kleinorchesterleiter selbstständig. In der Rossau, in Döbling oder am Heumarkt begann man, Eigenes zu produzieren. In der Leopoldstadt, für das Wirtshaus "Zur Kettenbücke", entstand der gleichnamige Walzer, der erste große im später verpflichtenden Stil aus einander stimmungsmäßig gegenübergestellten Einzelstücken. Dann ging es Schlag auf Schlag. Strauß kam ins "Sperl", ins "Tivoli", wurde Kapellmeister eines Bürgerregimentes, bildete sich, heimlich, fort. Er schloss Verlagsverträge. Er begann, Orchester- und Kunstreisen zu unternehmen, am Hof positiv aufzufallen und sofort auch dort zu reüssieren. Das Unternehmen prosperierte. Und wie.

1825 heiratete er. Von "anderen Umständen" gezwungen. Mit Maria Anna, geborene Streim, wird er noch viele Kinder haben. Darunter auch die Trias der Musikgeschichte. Mit seiner Frau wird er nach kaum einem Jahrzehnt Ehe in einen wüsten Rosenkrieg schlittern, der nie beigelegt wird. Die Kinder wachsen familientraumatisiert auf. (Man hat später versucht, solchen Spuren auch in deren Musik nachzuforschen. Es musste, bei allem Forschergeist, weitgehend beim spannenden Versuch bleiben.)

Noch während der Zeugungszeit des Eduard unterhält der P¨re schon eine Parallelverbindung mit einer Handarbeitsmamsell, Emilie Trampusch. Ein halbes Dutzend weiterer Kinder wird auch mit ihr gezeugt. Aber Strauß beharrt Jahre hindurch auf seiner Doppelposition. Er allein ist der Verantwortliche, allüberall. Er allein bestimmt die Familien.

Und doch, auch solche Privat-Diadochenreiche förderten das rasante Sichweiterentwicklen des neuen Stils, der Musikverbreitung und des Marketings. Ab 1833 kaufte sich Strauß in einem Neubau ein, einem Riesenkomplex für damalige Verhältnisse. Er nahm dort gleich mehrere Wohnungen nebeneinander. Zweck und Absichten: Erstens, die erste Familie kam unter Kontrolle und die Absenzen zur anderen waren dennoch möglich; zweitens, er konnte probieren und die Noten (die Melodien, die Themen, die Rhythmen) im Haus hüten sowie dort ausschreiben und vervielfältigen, ja bald wie in einer Manufaktur nach Eigenentwürfen von anderen ergänzen und fertig stellen lassen, denn Urheberrechtsschutz war weitgehend ein Fremdwort; drittens, die sich entwickelnde "Firma" Strauß hatte einen Sitz, von dem aus die Medien, die Impresarii und die Anfragen aus dem Ausland bedient werden konnten. Denn die gab's bald.

REISE-GALOPP
Alles passt irgendwie nicht ganz zusammen. Das Strauß-Bild wird, je mehr man in seine Vita und sein Schaffen (= Komponieren + Auftreten + Marketing) einzutreten versucht, vielfältiger, verblüffender und diffuser zugleich. Da reißt innerhalb eines knappen Jahrzehnts ein junger Aufsteiger aus einer schier erratischen Kaste des Proletariats das halbe Musikleben der diesbezüglichen Stadt Nummer eins, nämlich Wiens, und in Ansätzen auch schon halb Europas nieder. Er kann zunächst wenig Geige spielen und wird im  learning by doing zum wienerischen Pendant Paganinis. Er kann auch zunächst kaum jenseits der Tanz-Schemata komponieren und vereinnahmt bald mehr als die hundert wichtigsten aktuellen und zeitgenössischen Musiken in die eigene, formt alles um und füllt damit auf und deutet um. Strauß lässt zu, fördert, animiert. Er geriert sich vor seinen immer perfekter werdenden Ensembles, mehrmals in der Woche, auch täglich mehrmals. Es ist ganz egal ob noch immer im Wirtshaus am Donaukanal oder im Redoutensaal - sein Publikum wird gleich reagieren, zum ersten Mal in der Musik-, Tanz- und Bewegungsgeschichte gibt es keine Klassenschranken mehr. Strauß erlaubt mit seiner entweder süß-drehenden oder bis zur körperlichen Entäußerung führenden Neukomposition, deren Performance und steten Wiederholung, erstmals ohne Oral-Drogen ein Umstülpen der Körper. Strauß: der DJ, der E.-T.-A.- Hoffmanneske.

Auch das Umfeld wird neu erfunden: Backstage-Leben, Groupies, Massendirigate eines vor dem Podium fuchtelnden Publikums, enge High-Society-Kontakte (bald Hofball-Musikdirektor), Werbung, Marketing zwischen gekaufter Presse und billigem, einfach zu spielendem Massennotennachdruck (dem Vorläufer von Schallplatten-Singles, Video-Clips und DVDs).

Doch der ausfransende Mann verfolgt nicht in Wien allein seine Karriere sukzessive weiter. Er flüchtet bald und oft - vor den Familien, vor den immer fordernder werdenden Verlegern, vor der Langeweile, vor Schuldenbergen - vor allem vor sich selbst? Er ist der erste tatsächlich große Ensemble-Reisemusiker auf dem Unterhaltungssektor. Es ist schier unvorstellbar, was Strauß und eine ihm offenbar ergebene Truppe schon Anfang der 1830er-Jahre unternahmen. Zugegeben, man nützte alle neuen technischen Ressourcen, die da bald hießen Eisenbahnen oder Schiffe mit Schaufelrädern. Faszinierend ist's allemal. Allein jede karge Auflistung der Produktionsorte während der Strauß-Tourneen in dessen rund 20 Hauptproduktionsjahren würde eine Geburtstagshommage wie diese sprengen. Mit noch nicht 30 drängte Strauß in die Monarchiezentren, Budapest wird immer wieder besucht, später Olmütz, Prag, Brünn, Pressburg (man brauchte für jedes Gebiet oft noch gesonderte Pässe!); dann 1834/35 Berlin, Sachsen, Rheinlande; dasselbe im Folgejahr, aber bis Aachen und Köln, bis Brüssel und Antwerpen; dann die vielleicht wildeste Musikgroßreise der Zeit, Oktober 1837 bis Weihnachten 1838, insgesamt wahrscheinlich weit mehr als 100 Konzerte: (fast überall) in Westdeutschland, Paris, überall in Flandern, London, überall in Mittelengland, Dublin (alles wieder zurück und hin und her), Mittelengland, Glasgow, wieder zurück, Paris. Der Höhepunkt waren offiziöse Produktionen anlässlich der Inauguration Victorias.

Dann gab's die letzten zehn Lebensjahre. Das Metternich-System schnürte ein. Tanzvergnügen. Alkohol und Riesen-Scheinfeste waren als Ventile erlaubt (wie stets). Strauß verbrannte sich wieder für einige Jahre in Wien. Dann floh er abermals. Immer wieder waren Mitteldeutschland und Berlin das Ziel, dann auch Böhmen, zwei Monate vor seinem Tod noch einmal London.

STADT-UND-LANDLEBEN-WALZER
Es gibt gute Lebensdarstellungen vom Strauß, dem Vater. Aber sie listen Fakten auf und schwärmen vom Biedermeier. Dieser Mensch zwischen einem böse gewordenen Österreich, einer frühen Wagner-Liszt-Schumann-Chopin-Zeit, im sich vorbereitenden industriellen Zeitalter und selber währenddessen der Erfinder der U-Musik mit all ihren Spielarten, dieser Mensch muss faszinierend, unberechenbar und eruptiv gewesen sein. Mehr als 250 Werke hat er hinterlassen, darunter noch immer weitgehend unbekannte Solitäre. Ihr Verzeichnis und ein Notenaufarbeiten stehen in nuce und sind privat initiiert. Man hat den Senior seitens der Stadt und des Landes genauso verkommen lassen und höchstens als dümmliches Neujahrs- und Kurkonzert-Vehikel transportiert, wie das beim Sohn Johann und bei Josef, wie das beim Lanner geschah und noch geschieht. Die renommierten österreichischen Orchester bringen es nicht einmal fertig, Produktionen mit halbwegs entsprechenden und quellenkritisch edierten Strauß-Werken anzubieten. Man plappert zwar gern vom Johann senior als einem der 100 Größten überhaupt, doch sonst: übliche tote Hose unter lächelnder österreichischer und Wiener Kulturpolitik.

WALZER: DER FROHSINN MEIN ZIEL
Johann Strauß war ein Egoist, wie jeder hervorragende Komponist; er war feig, wie jeder hervorragende Komponist. Seinen Söhnen verbot er die Musik. Ab 1844 musste er sich die Szene dennoch mit einem Konkurrenten namens Johann Strauß Sohn teilen. Während der Revolution, die seine Söhne bei den Barrikaden verbrachten, igelte er sich ein und komponierte nach überallhin, für Ungarn und Jellacic, für die Deutschen und die Studenten, für den geflohenen und den zurückgekehrten Kaiser . . . und für den Feldmarschall per se, Radetzky; es wurde der Marsch aller Märsche.

Ein Kind aus der zweiten Verbindung soll ihn mit Scharlach angesteckt haben. In der Nacht vom 24. auf den 25. September 1849 verreckte er mehr oder weniger, ganz allein. Er, der sonst im Publikum badete. Emilie Trampusch schnappte die Kinder und was sie halt so mitnehmen konnte und floh. Fast alle ihre Nachkommen gerieten ins Elend oder auf die schiefe Bahn. Geniale Musiker waren nicht darunter. Anna Maria aber übernahm das Szepter der Firma Strauß, noch für zwei Jahrzehnte, als liebevoll trauernde Witwe.

Aus einem zeitgenössischen Nachruf für den, der sich verbrannt und zugleich einen Output hatte wie wenige in aller Weltmusik überhaupt: "Wie schön seine Kompositionen auch waren - spielen musste man ihn sehen. Ja, sehen, nicht bloß hören. Wie der blasse, schmächtige Mann aufs Podium sprang, die Geige ergriff und wie vom Teufel befallen zu spielen begann. Die dämonische Kraft ging aufs Publikum über, in einem Taumel wurden alle zu einem einzigen Wesen, im Rhythmus, im Klang, mit diesem wunderbaren Hexenmeister." [*]

Am 14. März zeigt ORF 2 um 9.30 Uhr die von Felix Breisach und Otto Brusatti gestaltete Strauß-Hommage "Das Leben ein Tanz", ab 15.06 präsentiert Otto Brusatti auf Ö1 eine radiofone "Annäherung" unter dem Titel "Wer war Johann Strauß Vater?".

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.