Wissen und "Wirks"

Schluss mit dem Fatalismus, dem fortwährenden "Es gibt keine Alternative", das uns aus Politik und Wirtschaft entgegendröhnt. Bildung eröffnet weit mehr Möglichkeiten und größere Freiheiten, als viele von uns heute glauben.

Wir müssen ganz energisch einem Fatalismus: "Es gibt keine Alternative!" entgegentreten, der in steigendem Maße nicht nur unter den vielen, nach neuer Orientierung suchenden Menschen aufkommt, sondern auch bei den Regierungen und den Managern der Wirtschaft anklingt. Selbstverständlich gibt es Alternativen. Angesicht der so hoch gepriesenen Fantasie des Menschen ist es doch erstaunlich, ein "There is no alternative!" gerade im Zusammenhang mit unserer heute dominierenden neoliberalen, kapitalistischen Marktwirtschaft zu hören, die nun wirklich kein ehernes Naturgesetz, sondern nur eine von Menschen geschaffene Spielregel darstellt. Bildung eröffnet weit mehr Möglichkeiten und größere Freiheiten, als viele von uns heute glauben. Bildung ist ein Weg in die Freiheit.

Was wir unter Bildung verstehen wollen, kommt sehr gut in den Worten von Dietrich Bonhoeffer zum Ausdruck: "Bildung ist die Fähigkeit, ein Verhältnis zum Ganzen des natürlichen und geistigen Daseins zu entwickeln." Ich bin sehr dankbar dafür, dass wir in der deutschen Sprache dieses Symbol "Bildung" haben. Es drückt unmittelbar die Offenheit des "Bildhaften" aus: ein nicht auftrennbares Beziehungsgefüge, das vielfältige Differenzierung ohne Trennung erlaubt und somit verschiedene Formen der Artikulation zulässt, ohne dabei das Ganzheitliche, das Schöne, das Wahre und Gute, aus dem Auge zu verlieren. Doch "Bildung" enthält in meinen Augen auch noch eine Dynamik, Lebendigkeit. Sie ist dann weniger ein Gut, das in sich selbst ruht, sondern mehr ein Gut, das sich aus sich selbst entfaltet und auch, aus meiner Sicht, neue Sprossen treiben kann. Dieser dynamische Aspekt von Bildung drückt sich unmittelbarer und angemessener in der Verbform "bilden" aus, das Wandlung, Metamorphose betont.

Die alte Physik geht von der Frage aus: Was ist? Am Anfang einer Beschreibung steht die Substanz: Objekte, Dinge, Materie, für unsere Hand greifbar, durch Begriffe, also durch Substantive benennbar. Zur Form kommen wir erst in einem zweiten Schritt: Anordnung von Materie, Ergebnis einer Wechselwirkung zwischen Materie und Materie. Die neue Physik sieht ganz anders aus. Sie ist gar nicht neu. Auslöser waren eine Beobachtung von Max Planck 1900, eine eigenartig neue Erklärung 1905 von Einstein über Licht, eine Entdeckung 1911 von Rutherford, dass das als formlos angenommene Atom, das Unteilbare, doch eine Struktur hat, eine paradox klingende Erklärung dieser Atomstruktur 1913 von Bohr und 1923 von de Broglie und schließlich 1925 eine revolutionär neue Deutung des Paradoxen von Heisenberg, welche die Fundamente der alten Physik zerstörte. Das wesentliche Ergebnis: Materie ist nicht aus Materie aufgebaut. Im Grunde gibt es nur ein immaterielles, nicht auftrennbares Beziehungsgefüge. Primär ist also nicht die Materie, sondern Form, Gestalt, Beziehung, Relation. Energie und Materie (eine Art verklumpter Energie) erscheint erst sekundär bei vergröberter Betrachtung, gewissermaßen als eine "geronnene" Form des Beziehungsgefüges. Am Anfang steht nicht mehr die Frage "Was ist?", sondern "Was passiert?". Nicht das Greifbare, sondern der Wandel.

Die Nichtauftrennbarkeit der Wirklichkeit bedeutet Ganzheitlichkeit, das Ganz-Eine oder besser, Sanskrit, Advaita, die Nicht-Zweiheit, das Aduale, der implizite Zusammenhang. Es gibt streng genommen nur Teilhabende, keine Teile mehr und damit keinen Reduktionismus, das heißt, das Ganze aus der Summe seiner Teile verstehen zu wollen, eine Grundbedingung der analytischen Betrachtung und der Naturwissenschaft, statt "Teilchen" als Bauelemente eigentlich nur "Passierchen" oder "Wirks".

Die Zukunft der Wirklichkeit ist wesentlich offen, aber nicht beliebig. Das Zukünftige ist nicht mehr streng determiniert, sondern nur tendenziell, als in ihrer Wahrscheinlichkeit gewichtete Möglichkeiten vorherbestimmt. Wirklichkeit ist nicht im strengen Sinne "wissbar". Die Schöpfung ist nicht abgeschlossen, die Wirklichkeit ein "lebendiger" Kosmos.

Das klingt alles aufregend und revolutionär. Aber es ist nicht so leicht einzusehen, was wir mit dieser paradoxen Wirklichkeit anfangen sollten. Muss uns dies alles überhaupt interessieren, beziehen sich doch diese Aussagen zunächst nur auf Begebenheiten des Mikrokosmos? Was sollen diese neuen Einsichten überhaupt mit unserer Alltagserfahrung zu tun haben, die sich doch in einer um acht Zehnerpotenzen größeren Welt abspielt?

Die Objekte unserer Welt sind Versammlungen von Billionen mal Billionen von Atomen oder "Wirks". Eine Antwort darauf entspricht etwa der Aufgabe, vom Verhalten einer Ameise auf die Eigenschaften eines Ameisenhaufens weit größer als der Mount Everest zu schließen. Doch die Antwort ist leicht, wenn wir nicht auf absolute Genauigkeit pochen: Aus großer Entfernung und deshalb vergröberter Betrachtung eines Ameisenhaufens ist nichts mehr von dem verwirrenden Gewusel im Kleinen zu erkennen: Es verbleibt ein starrer Kegel einsam im Wald.

Und so geschieht dies auch mit unserer neuen Physik. Ein gut durchgeschüttelter Sack von Billionen mal Billionen zappelnder "Wirks" hat ein ganz langweiliges Verhalten: Die lebendige Potenzialität erstarrt im Mittel zur Realität und - welche Überraschung und doch eher Erwartung - genau zur Realität der alten Physik mit den uns wohlbekannten materiell-energetischen Eigenschaften und ihren streng determinierten Naturgesetzen. Die paradoxe mikroskopisch wichtige Quantenwelt hat also für die Welt unseres Alltags praktisch keine Konsequenzen. Sie können also erleichtert aufatmen und, was Ihren Alltag betrifft, alles vergessen, was ich erzählt habe.

Doch diese Aussage gilt nur pauschal. Unser Alltag ist reicher als wir denken. Mit hoch empfindlichen Instrumenten kann ich sehr wohl diese Zappelei in der Mikrowelt aufspüren. Aber um eine so hohe Empfindlichkeit zu erreichen brauchen wir nicht unbedingt riesengroße Apparate wie etwa Supermikroskope, die großen Teilchenbeschleuniger der Elementarteilchenphysiker. So wissen wir vom Hörensagen, dass es kritische Wetterlagen in der Atmosphäre gibt, wo eine winzig kleine Störung, etwa der Flügelschlag eines Schmetterlings, einen Hurrikan auslösen kann. Die Voraussetzung für eine so gigantische Verstärkung der auslösenden Ursache ist die "kritische" Wetterlage: Sie muss ein hoch instabiler Zustand sein.

Solche hoch instabile Zustände sind uns auch in anderen Zusammenhängen bekannt. Zum Beispiel wenn ich auf einem Bein stehe, höchst wackelig, weil instabil. Das Wackelige macht Angst, hat für uns aber den Vorzug, dass wir mit ganz geringen Kräften jede Orientierung einstellen können, in die wir aus freier Entscheidung umfallen wollen. Freiheit wird also durch Unsicherheit erkauft. Wenn wir die Unsicherheit zuspitzen, indem wir eine zugespitzte Stelze besteigen, so wird der Aufwand für unsere Orientierungsentscheidung mit zunehmender Zuspitzung immer geringer - wie beim Schmetterlingseffekt mit zunehmender Instabilität der Wetterlage. Instabilität hat also nicht nur Nachteile, sondern auch den Vorteil einer gesteigerten Sensibilität.

Sensibilität entsteht bei Instabilität, doch Instabilität führt, wie bei meinem Bein-Beispiel, zum letztlich unvermeidlichen Fall und damit zum Ende meiner kurzen Freiheit. Nun habe ich aber ein zweites Bein. Wenn sich diese beiden sensibilisierten, freiheitssüchtigen Problembeine zusammentun und eine geeignete Logistik verabreden, wo, wenn das eine umfällt, das andere Bein nach vorne schwingt, es auffängt, und anschließend dasselbe, nur in umgekehrter Reihenfolge abläuft, so kommen sie zu einem dynamisch stabilisierten Bewegungsablauf, den wir "Gehen" nennen und der sich beliebig lange aufrechterhalten lässt - genauer gesagt: nur wenn wir bei jedem Schritt durch Streckung des vorderen Beines ein wenig Energie zufüttern. Und hiermit haben wir das Geheimnis des makroskopischen Lebens entdeckt: Sensibilisierung durch Instabilität und gleichzeitige dynamische Stabilisierung durch Differenzierung und kooperative Integration des Verschiedenartigen unter stetiger Zufuhr von Energie.

Was lernen wir aus den hier nur oberflächlich skizzierten Überlegungen? Bildung umfasst mehr als das explizite pragmatische Wissen, das aus der Vorstellung der Wirklichkeit als Realität abgeleitet ist. Dieses Wissen deckt sich im Wesentlichen mit dem, was wir Verfügungswissen nennen. Es ist ein Wissen, das auf praktische Anwendung zielt und auch ein Grundlagenwissen einschließt, das für die ins Auge gefasste Anwendung als Basis erarbeitet werden muss. Dieses Verfügungswissen muss jedoch dringend durch ein Orientierungswissen erweitert werden, das unabhängig von möglichen Anwendungen der expliziten Einsicht und dann auch der impliziten mystischen Einsicht, dem "Innensehen" oder, dem Gedanklichen einen Schritt näher, der Intuition und einer Inspiration folgt.

Das Orientierungswissen verschafft uns enorme Freiräume für Visionen, die nicht als lebensferne Träumereien gebrandmarkt, sondern als notwendige Vorbereitung und mögliche Einstiege für eine zukunftsfähige Gestaltung der Zukunft betrachtet werden sollten. Orientierungswissen hat nicht die Schärfe von Verfügungswissen. Verfügungswissen sucht lokale Exaktheit für präzise Manipulation und ist deshalb auf scharfe Abtrennung gegenüber anderem angewiesen. Dafür verliert es das Gefühl für den Kontext, der für eine Bewertung seiner Relevanz nötig ist. Gerade dieses ist aber die Stärke des Orientierungswissens. Seine Unschärfe ist nicht einfach ein Mangel an Schärfe, sondern eine Verbesserung im Erfassen des größeren Zusammenhangs.

Inspiration ist mit Angst nicht verträglich. Verbreitung von Angst verstopft unsere geistige Quelle, unseren Zugang zum Adualen, zu Advaita, der von uns höchste Sensibilität verlangt. Dieser Zustand erfordert höchste äußere Unsicherheit und Verwundbarkeit, in dem wir nur in Augenblicken großen Vertrauens es wagen, uns hinzugeben. Unsere Angst lässt das nicht zu.

Eine Menschheit, die ihren Erfolg, ihr Glück, ihre Weiterentwicklung auf Wettbewerb aufbaut - einem Negativsummenspiel mit wenigen Gewinnern und vielen Verlierern und im Gegensatz zu einem Plussummenspiel, die frühere Competition, wo die beste Lösung für alle gemeinsam (com) gesucht (petere) wird - zerstört systematisch wechselseitiges Vertrauen und verschüttet damit den Zugang zu ihrer geistigen Dimension und in der Folge den Zugang zu möglicher Freiheit und letztlich ihrer Lebensquelle. [*]

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