Wer bemerkt den Unfall? Die Sensoren!

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Die Technologie hilft älteren oder durch eine Behinderung beeinträchtigten Menschen. Unter dem Terminus Ambient Assisted Living schaffen Wissenschaftler eine Wohnumwelt, die auf Überwachungskameras verzichten kann.

Seit Wochen tot in der eigenen Wohnung, oft auch seit Monaten? Vor wenigen Tagen wurde ein Fall publik, bei dem eine Frau nach etwa zwei Jahren leblos aufgefunden wurde. In Wien, in einem Gemeindebau. Wer nicht sozial und/oder medizinisch vernetzt wird, geht nicht ab. Ein Unfall wird nicht zur Kenntnis genommen.

AAL setzt schon früher an, im Anfangsstadium von Vereinsamung oder Hilflosigkeit. Ambient Assisted Living soll Menschen ermöglichen, möglichst lange allein ein gesundes und selbstbestimmtes Leben in der eigenen Wohnung zu führen und gleichsam mit der Außenwelt vernetzt zu sein. Dies ermöglichen hochspezialisierte Sensoren, die im Wohnumfeld installiert sind. Das betrifft Alte, Kranke, aber auch junge Menschen mit Behinderungen. Die Forschungen laufen in Österreich und europaweit auf Hochtouren – schon deswegen, weil die Bevölkerungsentwicklung hier rasche Innovationen erfordert. Im Jahr 2060 soll laut statistischen Prognosen jeder dritte Europäer älter als 65 Jahre sein, in Österreich eher schon etwas früher. Und von 1993 bis Ende 2012 ist in Österreich die Zahl der Pflegegeldbezieher von 230.344 auf 431.914 gestiegen.

Die ältere Generation will auch – wenn möglich – im eigenen Umfeld alt werden. Derzeit werden 83 Prozent der Pflegebedürftigen zu Hause betreut. Die Aufwendungen dafür steigen, sowohl private als auch der öffentlichen Hand. Zudem ist der Pflegekräftemangel jetzt schon vorhanden. Es muss also etwas geschehen.

Der Begriff AAL wurde vor acht Jahren vom deutschen Ingenieurverein und vom deutschen Verband der ElektrotechnikerInnen geprägt, um damit eine neue Disziplin und einen Ansatz für Forschungsförderungen zu schaffen. Einer der ersten Verbündeten der Deutschen war das österreichische Infrastrukturministerium. Darauf wandte sich die deutsche Initiative an die TU Wien, wo sie einen interessierten Ansprechpartner fand, der bereits seit zwei Jahrzehnten die Forschungssparte „Assistierende Technologien für behinderte Menschen“ verfolgte. „Und heute sind wir in der gesamten AAL-Bandbreite tätig“, sagt Wolfgang Zagler vom Zentrum für angewandte assistierende Technologien der TU Wien und Leiter der Forschungsgruppe Rehabilitationstechnik „fortec“.

Der Fokus der TU-Forschung liegt beim Thema Sicherheit bei gefahrenbezogenen Situationen, wie dies Zagler am Beispiel der Sturzgefahr ausführt. Sensoren, die am Boden der Wohnung verlegt sind, können anzeigen, wenn ein Mensch plötzlich stürzt – „das ist eine Erdbebenwarte im Kleinen“, veranschaulicht er. Entwickelt werden zudem in der Schuhsohle eingebaute Schritt- und Bewegungssensoren, die schon bei einem plötzlich eintretenden unregelmäßigen Gang ein Gefahrensignal auslösen sollen. Sie könnten also ein eintretendes Schwindelgefühl melden und der betroffenen Person anzeigen, dass sie sich hinsetzen und eine Pause einlegen muss. Bis zur Produktreife wird aber noch einige Zeit benötigt.


Sensoren für Gesamtbild.
Weitere Sensoren können andere Sicherheitsprobleme anzeigen. Wird ein Bügeleisen nicht abgeschaltet, der Kochherd nicht abgedreht, im eisigen Winter das Fenster nicht wieder geschlossen – ein Sensor meldet dies. Oder wenn eine Person in der Nacht nicht wie üblich die Toilette aufsucht, dann könnte womöglich Gefahr im Verzug sein. Ebenfalls wenn diese Person nicht wieder von der Toilette zurückkehrt. „Viele Sensoren ergeben ein Gesamtbild und ersetzen Überwachungskameras“, sagt Zagler, der strikt das von der Forschung betriebene Monitoring von einer von außen gesteuerten Überwachung auseinanderhält. Die Installation einer Videokamera käme zweifellos billiger. Aber die Sensoren bleiben in der Privatsphäre der eigenen vier Wände, Unregelmäßigkeiten werden nur an eine Vertrauensperson gemeldet. „Eine Firewall ist vorhanden“, so Zagler.

Auf europäischer Ebene hat man parallel zum 7. Rahmenprogramm ein eigenes AAL-Forschungsprogramm geschaffen. In Österreich ist AIT daran beteiligt, in Deutschland das Fraunhofer-Institut in Darmstadt, wo eine Gesamtlösung aller Sensorsysteme im Mittelpunkt der Forschung steht. Reiner Wichert, Sprecher der Fraunhofer-Allianz AAL, nennt die Verbindung der drei Sicherheitsbereiche als angepeiltes Ziel: erstens die körpernahe Sensorik, bei der es um den Herzschlag, den Blutdruck oder die Diabetesmessung geht.

Zweitens die Umgebung der Person, also Erinnerungsfunktionen wie eben der abgeschaltete Herd oder ein Gerät für die richtige Dosierung und Zuteilung der täglich erforderlichen Medikamente. Und drittens die soziale Integration, die das Zurückziehen älterer Menschen sowie das Abgleiten in eine Depression verhindern soll.

Hier kann mittels Sensoren der Kontakt mit Gleichgesinnten, etwa über Videotelefonie, hergestellt werden. Werden die Systeme nicht vereinheitlicht, wird die Einrichtung der künftigen Sicherheitswohnung unerschwinglich. Dabei gibt es in Deutschland bereits erfolgreiche Ansätze.

So übernimmt die deutsche Pflegeversicherung bei der Anschaffung eines Notfallknopfes zwei Drittel der Kosten. Neben der Pflegeversicherung könnten auch Wohnbauträger Interesse an einer Kostenbeteiligung haben, meint Wichert. Wenn bei einer Neubauwohnung bereits die Grundlagen für das Sensorsystem geschaffen werden, kann auch eine etwas höhere Miete verlangt werden. Ein späterer Einbau kommt auf jeden Fall teurer. In Berlin ist mit kommunaler Unterstützung die Schaffung von 1000 derartiger AAL-Wohnungen geplant, u. a. ist auch Philips Österreich daran beteiligt.

Auch in Österreich wird die Vernetzung der Anbieter mit ihren unterschiedlichen Systemen angepeilt. Ende 2010 hat die Wiener Industriellenvereinigung (IV) eine diesbezügliche Arbeitsgruppe gegründet, in der Philips, Bosch, IBM, Telekom, TU Wien, AIT, Kwizda und zeitweise auch Kapsch sowie Sozialinstitutionen eingebunden sind. „Die technischen Komponenten sind schon da, in zehn Jahren könnte die AAL-Wohnung Standard sein“, sagt der Leiter der IV-Arbeitsgruppe Robert Körbler, der Philips Healthcare Österreich leitet. Körbler hebt auch die Zusammenarbeit mit den Fachhochschulen Hagenberg und FH Technikum Wien hervor. Am Philips-Forschungs- campus in Eindhoven/Niederlande existiert bereits eine Musterwohnung, in der Probanten drei Monate die Umsetzung der Hilfs- und Warninstallationen testeten.


Gemeinsam forschen. Der nächste Schritt in Österreich war die im April dieses Jahres erfolgte Gründung der Innovationsplattform „AAL Austria“. Die Präsidentin Michaela Fritz verfügt als Leiterin des Health & Environment Departments des AIT selbst über eine einschlägige Forschungspraxis. Die neue Plattform vereinigt Forschungsinstitutionen, Sozialinstitutionen und Pflegeeinrichtungen. Ziel ist der effiziente Erfahrungsaustausch zwischen forschenden Unternehmen, den Gesundheits- und Sozialdiensten und den Endabnehmern. „Wir wollen die wichtigsten Player im Bereich des AAL an einen Tisch holen und die künftigen Pflegetechnologien nicht dem Zufall überlassen“, sagt Michaela Fritz. Man will aber auch Empfehlungen und Leitlinien erarbeiten, Veranstaltungen und Arbeitskreise organisieren und mit einer aktiven Öffentlichkeitsarbeit das Bewusstsein für AAL schaffen.


Ereignisse erkennen. Unter den Forschungsinstitutionen der AAL Austria finden sich ebenfalls AIT, Joanneum Research, TU Wien, Philips und die Österreichische Computer Gesellschaft. AIT arbeitet an einem Verhaltensmonitoring der Benutzer. Wird beispielsweise der Kühlschrank 24 Stunden lang nicht geöffnet, löst das System einen Alarm aus. Joanneum Research hat das Institut „digital“ eingerichtet, bei dem es um die Ereigniserkennung basierend auf akustischer und visueller Sensorik geht.

Bei den heurigen Alpbacher Technologiegesprächen vom 23. bis 25. August wird AAL mit in- und ausländischen Referenten in einem eigenen Arbeitskreis diskutiert. Am 16. Oktober veranstaltet Joanneum Research und die FH Joanneum das AAL-Forum Styria 2012 in Graz, das unter dem Motto „Live is Life“ steht. Der 1. Oktober ist übrigens der jährliche Tag des Alters. Und das Jahr 2012 ist von der EU zum „Europäischen Jahr für aktives Altern und Solidarität zwischen den Generationen“ ausgerufen worden. Wobei es – neben dem Blick auf neue Technologien für das Leben älterer Menschen – auch um das Miteinander der Generationen und eine gewisse Mitverantwortung der Jungen geht.

NEUE FORSCHUNG

AAL-Diskussion. Im Rahmen der Alpbacher Technologiegespräche, die vom 23. bis 25. August im Tiroler Bergdorf in Szene gehen, wird in einem der Arbeitskreise auch über „Ambient Assisted Living“ (AAL) diskutiert. Die Technologiegespräche umfassen
zwölf Plenarveranstaltungen sowie
13 Arbeitskreise, eine Sonderveranstaltung und eine Technologieeinführung für Jugendliche.

Technologien für die Zukunft. Vorstellung und Erörterung neuer Technologien sind das Markenzeichen der Alpbach-Tage, die heuer unter dem Generalthema „Globale Zukunft – Erwartungen an Wissenschaft und Technik“ stehen. Besonders die Jugend soll eingebunden werden.

Die Technologiegespräche werden vom Austrian Institute of Technology (AIT)
und Ö1 in Kooperation mit den Ministerien für Infrastruktur, Wissenschaft und Wirtschaft organisiert. „Die Presse“
ist Medienpartner.
www.alpbach.org/index.php?id=1636

AAL Austria

Neue Plattform. Im April 2012 wurde auf Initiative des Infrastrukturministeriums AAL Austria gegründet. Ziel ist der Erfahrungsaustausch und die Kooperation aller AAL-Interessenten.

Leitung. Präsidentin ist Michaela Fritz von AIT (Leiterin des Health & Environment Departments).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.08.2012)

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