Genetik/Psychatrie: In China ist man anders krank

Schizophrene haben im Gehirn eine höhere Dichte an bestimmten Rezeptoren für den Neurotransmitter Serotonin. Das zeigt diese PET-Aufnahme von Wiener Wissenschaftlern. Aber was ist Schizophrenie wirklich? Und wie unterscheidet sie sich von anderen Geisteskrankheiten?
Schizophrene haben im Gehirn eine höhere Dichte an bestimmten Rezeptoren für den Neurotransmitter Serotonin. Das zeigt diese PET-Aufnahme von Wiener Wissenschaftlern. Aber was ist Schizophrenie wirklich? Und wie unterscheidet sie sich von anderen Geisteskrankheiten?(c) APA (Johannes Taucher)
  • Drucken

Auf der Suche nach Genen, die bei psychischen Leiden mitspielen, wurde man bisher nicht fündig. Forscher streiten über Ursache und Abhilfe.

Anno 1968 stellten Ärzte in Schottland einem kriminellen Jungen die Diagnose „Schizophrenie“, sie fanden auch eine mögliche Ursache im Genom: Ein Gen von Chromosom 11 war auf Chromosom 1 gewandert, die Ärzte nannten es DISCI (disrupted-in-schizophrenia 1). Später dehnten sie die Gen-Analyse auf die Familie des Jungen aus – vier Generationen – und fanden diese Variante oft: Sechs ihrer Träger hatten Schizophrenie, fünf hatten Depressionen, zwei litten unter Angstattacken, einer hatte Selbstmord begangen. Aber auch Familienmitglieder mit ganz normalen Genen hatten Probleme, Ängste, Depressionen, Alkoholabhängigkeit. „Dieses Gen ist bisher der stärkste Beweis dafür, dass Gene bei psychischen Krankheiten beteiligt sind“, berichtet Nature, „aber es ist auch ein Lehrbuchbeispiel für die Komplexität psychiatrischer genetischer Studien“ (454, S.154).

Kleine Studien...

Denn die Gen-Variante gab es gehäuft offenbar nur in dieser Familie, alle späteren Schizophrenie-Gen-Studien mit mehr Beteiligten fanden sie nicht, sie fanden auch sonst keine Kandidaten. Allerdings waren auch diese Studien klein, die größte umfasste 750 Personen (und ebenso viele Kontrollen). Manche Ärzte rufen deshalb nach umfangreicheren Studien: Wenn man Gene sucht, die bei multifaktoriell verursachten Krankheiten des Körpers mitspielen – Diabetes etwa –, braucht man schon ein paar Tausend Testpersonen, sonst gibt die Statistik keine Kandidaten her. Es kann also sein, dass man bei Krankheiten der Psyche bisher nur nicht gut, d.h., breit genug geschaut hat.

Es kann aber auch sein, dass die Diagnosen bei psychischen Leiden so unscharf sind, dass man überhaupt nicht weiß, welche Testpersonen man denn suchen soll. Sieben Jahre lang haben etwa tausend Mitarbeiter an der vierten Auflage des Handbuchs der American Psychiatric Association („Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“) gearbeitet, aber die Definitionen überlappen einander so sehr – etwa bei Schizophrenie und Depression: Apathie gehört zu beiden Krankheitsbildern, Wahnvorstellungen gehören auch dazu –, dass schon das nächste Team an der nächsten Ausgabe des Handbuchs sitzt.

Viel zu tun: Nicht nur „Schizophrenie“ ist vage definiert, „bipolar disorder“ ist es auch, früher einmal hieß dieses Leiden „manisch-depressiv“. Es überfällt für gewöhnlich Erwachsene, aber in den USA hat es sich bei den unter 20-Jährigen von 1993 bis 2004 vervierzigfacht (auf ein Prozent, das ist der Durchschnitt des Leidens bei Erwachsenen). Man weiß nicht, „ob diese verstörten Kinder zugenommen haben oder ob sie einfach ,relabelled‘ wurden“, berichtet Psychiaterin Gabrielle Carlson (Stony Brook University). Ihr Kollege David Healy (Cardiff) vermutet hinter dem Mirakel partiell die Pharmaindustrie, die die Ärzte zum Verschreibung der neuesten Medikamente ermutigt (Science, 321, S.193).

...unscharfe Definitionen...

Wie auch immer, für „bipolar disorder“ gibt es keinen Tests, und wenn die Ärzte ihr Handbuch der 4.Auflage zu Rate ziehen, dann finden sie vieles, woran ein Kind leiden könnte, das sich übermäßig ausagiert, von „attention deficit hyperactivity disorder“ über „oppositional defiant disorder“ bis zu „intermittent explosive disorder“. Die Psyche ist kompliziert, und, Zusatzproblem, anders als der Körper ist sie kulturell überformt, auch dann, wenn sie Leiden wahrnimmt und wenn sie darüber spricht. Insofern ist Depression in Ostasien eine ganz andere Krankheit als im Westen: Kommt in China ein Depressiver zum Arzt, klagt er vor allem über körperliche Symptome, Kopfschmerzen etwa oder Appetitlosigkeit, er „somatisiert“ die Krankheit; im Westen hingegen wird sie „psychologisiert“, hier klagen die Patienten über das Gefühl der Trauer oder über Verlust des Selbstbewusstseins.

Das haben Psychiater lange schon vermutet, nun hat es Michael Bagby vom Center for Addiction and Mental Health (Toronto) in einer vergleichenden Studie bestätigt (www.camh.net). Unschärfen also, wo man hinsieht, manche Forscher raten zur Radikallösung, vor allem Daniel Weinberger vom National Institute of Mental Health (Bethesda) tut es: Er plädiert dafür, genetische Grundlagen nicht mehr für Krankheiten zu suchen – die hält Weinberger nur für weit nachgelagerte Endprodukte von Gen-Schäden –, sondern für „intermediate Phänotypen“: Das sind Gehirnstrukturen und -funktionen, die durch schon bekannte Gene und ihre Varianten geprägt bzw. gestört werden: So hat Weinberger etwa gefunden, dass eine Variante des Gens für den Serotonin-Transporter – sie steht im Verdacht, bei Depression mitzuspielen – die Reaktion der Amygdala auf furchterregende Bilder verändert. Das war das erste Mal, dass gezeigt wurde, dass eine Gen-Variante die Reaktion einer ganzen Gehirnregion auf einen emotionalen Reiz beeinflusst – und möglicherweise für verschiedene psychische Störungen prädisponiert.

...Zeit- und Geldverschwendung?

„Zeitverschwendung“, kritisiert Jonathan Flint (Oxford), der auf dem klassischen Weg bleiben, aber die Zahl der Testpersonen stark erhöhen will und gerade eine Spende von 100 Millionen Dollar – die größte je für psychiatrische Forschung – erhalten hat. „Will man wirklich Millionen Dollar für größere Studien ausgeben, die keine richtigen Ergebnisse bringen?“ So kontert Weinberger, der eben eine noch größere Summe von einer Stiftung bekam. Das Rennen geht los.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.07.2008)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.