Zwischen Allergie und Hysterie

Laktoseintoleranz
Laktoseintoleranz(c) Die Presse (Michaela Bruckberger)
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Nahrungsmittelunverträglichkeiten sind mitunter Zeitgeistleiden. Wie sie haben auch Allergien in den letzten Jahren stark zugenommen.

An der Saftbar: Hermann N. bestellt – nicht zum ersten Mal – einen frisch gepressten Karottensaft. Trinkt genüsslich. Plötzlich schwillt sein Gesicht dramatisch an, die Lippen werden dick, auf seinem Körper bilden sich rote Pusteln. „Saftbarsyndrom“, sagt der Volksmund, allergische Kreuzreaktion die Medizin.

Aber es muss nicht immer eine Allergie sein. Wenn jemand auf Milch oder Sekt mit Übelkeit reagiert, hat das sogar fast nie etwas mit einer Allergie zu tun – sondern in den meisten Fällen mit einer Nahrungsmittelunverträglichkeit. Eine Zivilisationskrankheit, über die vor 20, 30 Jahren noch kaum einer ein Wort verloren hat. Jetzt sind Unverträglichkeiten in aller Munde – Stichwort Laktoseintoleranz.

Aber handelt es sich dabei um eine ernst zu nehmende Krankheit? Oder haben wir es nicht vielmehr mit einer Modeerscheinung zu tun? Ein Zeitgeistleiden, dem sogar ein gewisser Chic anhängt? „Tut mir leid, ich habe Laktoseintoleranz“ – verbunden mit einer abwehrenden Handbewegung ein möglicher Weg, Interesse zu wecken, eine Mischung aus Mitleid und stiller Bewunderung hervorzurufen?


Wirtschaftsfaktor. Ob Modeerscheinung oder wirkliches Leiden – Nahrungsmittelunverträglichkeiten sind längst ein Wirtschaftsfaktor. „Ich habe schon den Eindruck, dass man sich seitens der Wirtschaft Gedanken gemacht hat, wie man Milch und Joghurt noch anders verkaufen könnte“, meint etwa Barbara Bohle, Biotechnologin und Immunologin an der medizinischen Universität Wien. „Plötzlich gab es überall laktosefreie Produkte, und es wurde damit stark geworben.“

Laktoseintoleranz wurde bekannt, wurde zum Thema. Und immer mehr hatten nach dem Genuss von Milch und ihren Produkten plötzlich Bauchschmerzen, Durchfall oder Blähungen. Schaffte hier Angebot erst Nachfrage, machte das Wissen erst krank?

„Wenn ich mir immer und immer wieder sage, dass ich das und das nicht vertrage, dann vertrage ich es auch wirklich nicht“, meint der bekannte Allergiespezialist Werner Aberer von der Grazer Universitätsklinik. Seiner Meinung nach werden Nahrungsmittelunverträglichkeiten deutlich überbewertet. „Nicht immer, aber in vielen Fällen sind das schon so etwas wie Modekrankheiten. Da laufen viele Leute mit einer Laktoseintoleranz herum und fürchten sich panisch vor Milch.“

Reinhart Jarisch, Leiter des Floridsdorfer Allergiezentrums, hört Aussagen wie diese gar nicht gern: „Nahrungsmittelunverträglichkeiten sind ernst zu nehmen. Wenn jemand etwa eine Fructoseintoleranz hat, und nach dem Genuss von Früchten immer wieder mit Blähungen oder Durchfall oder gar depressiven Verstimmungen kämpft, dann schränkt dies die Lebensqualität schon enorm ein.“


Drastischer Anstieg. Sicher ist: Nahrungsmittelunverträglichkeiten sind in den letzten Jahren in Österreich häufiger geworden, etwa 20 Prozent der Menschen klagen darüber. Dazu kommen rund 25 Prozent mit einer echten Allergie wie Insektengiftallergie, Heuschnupfen oder allergischem Asthma. Studien belegen eine Verdreifachung der Häufigkeit von Allergien in den vergangenen 30 Jahren, Tendenz stark steigend.

Wie kommt es zu diesem Anstieg? Bei Asthma könnte das immer weiter verbreitete Übergewicht mitverantwortlich für den Anstieg sein. Rund 560.000 Österreicher sind von Asthma betroffen, mehr als eine Million leidet mehr oder weniger stark an einer Pollenallergie. Für die Zunahme des Heuschnupfens gibt es mehrere Gründe respektive Hypothesen.

Da ist zunächst einmal die (umstrittene) These mit der Klimaerwärmung, die angeblich die Pollensaison in Europa verlängert. Auch die Unterforderung des kindlichen Immunsystems, das infolge übertriebener Hygiene und des Rückgangs der Kinderkrankheiten durch Impfungen „Ausbildungsmängel“ erleidet und „unterentwickelt“ bleibt, wurde bereits diskutiert. Und immer wieder wird der Stress der heutigen Zeit als Allergieförderer genannt, desgleichen die Umweltverschmutzung – schlagende Beweise konnten allerdings für all diese Thesen bisher nicht vorgebracht werden.

Ebenso wenig ist genau geklärt, warum unser Immunsystem plötzlich harmlose Substanzen wie Birkenpollen, Tierhaare oder Staub als Feinde betrachtet und eiligst beginnt, Antikörper dagegen herzustellen. Bei der ersten Konfrontation verläuft es noch problemlos, bei jeder weiteren Begegnung mit dem Allergen setzt ein heftiger „Abwehrkrieg“ ein. Der Kampf produziert, einfach erklärt, die allergische Reaktion, die von rinnender Nase bis zur Schockreaktion reichen kann.

Und häufig bleibt es nicht dabei. Jeder dritte Pollenallergiker entwickelt Asthma, mehr als 70 Prozent bekommen eine Kreuzallergie dazu: weil Allergene in Birkenpollen mit jenen in Äpfeln oder Karotten reagieren. Das eingangs beschriebene Saftbarsyndromist die Folge. Freilich muss es gar nicht der konzentrierte Saft sein. Auch wer Äpfel, Pfirsiche, Zwetschken oder Nüsse isst, kann mit Kribbeln im Mund oder Ausschlag am Körper reagieren.


Allergie im Alter.Warum aber reagieren manche Menschen mit 20, 30 oder 40 Jahren das erste Mal allergisch? Aberer: „Es kann sein, dass unser Immunsystem das Wissen, dass Pollen harmlos sind, plötzlich verliert.“ Eine Antwort, wieso das passieren kann, bleibt die Wissenschaft schuldig. „Wir wissen einfach nicht, warum man 40 Jahre lang etwas verträgt und dann plötzlich nicht mehr“, stößt Bohle in dasselbe Horn. An eine „totale Überreizung“ des Immunsystems glaubt der Referent für Komplementärmedizin der österreichischen Ärztekammer Klaus Connert: „Immer mehr chemische Substanzen, immer mehr Handys und Funkmasten sowie andere Umwelt- und Luftverschmutzung bringen unser Immunsystem allmählich in Bedrängnis – bis es eines Tages überreagiert.“ Die Allergie ist geboren. Und Hermann N. eines ihrer vielen neuen Opfer.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.04.2009)

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