Psychische Erkrankungen "allgegenwärtig"

(c) Clemens Fabry
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"Lebenserkrankungen" wie Burn-out, Depression, aber auch Demenz nehmen zu. Ist bald ein Drittel betroffen? "Es ist ein allgegenwärtiges Phänomen. Eine Ausgrenzung kann da nicht mehr stattfinden."

WIEN. Noch vor zehn Jahren galten Menschen mit psychischen Störungen als „Verrückte“. Wer unter einer Depression oder einer Panikstörung litt, ließ vom Hausarzt „Kreuzschmerzen“ auf die Krankmeldung schreiben. Gespräche über psychische Erkrankungen waren selbst im Freundes- und Verwandtenkreis der Betroffenen ein Tabuthema. Dass am Freitag Tausende zum Tag der seelischen Gesundheit ins Wiener Rathaus pilgern, zeigt, dass die gesellschaftliche Stigmatisierung psychischer Erkrankungen mittlerweile ins Wanken geraten ist.

„Rechnet man die Personen mit Demenz dazu, wird in absehbarer Zeit jeder dritte Österreicher von einer solchen Erkrankung betroffen sein“, sagt Georg Psota, Leiter der Psychosozialen Dienste Wien. „Es ist ein allgegenwärtiges Phänomen. Eine Ausgrenzung kann da nicht mehr stattfinden.“ Die Gesellschaft sei heute wesentlich „psychiatrieoffener“ als noch vor einigen Jahren. „Wir trauen uns heute viel mehr, darüber zu reden und das Kind beim Namen zu nennen“, meint auch die Psychotherapeutin Raphaela Kovazh. „Ich begrüße diese Entwicklung, aber wir sind noch lange nicht dort, wo wir hinmüssen.“

Dieser Trend wurde durch eine simple Tatsache ausgelöst: Es gibt immer mehr psychische Erkrankungen und Störungen. Ob deshalb, weil tatsächlich die Krankheitsfälle zunehmen oder deshalb, weil es immer mehr Diagnosen gibt, können allerdings nicht einmal die Experten beantworten. Tatsache ist, dass die Zahl der ärztlichen Verordnungen für Psychopharmaka schon zwischen 2000 und 2007 um 2,5Millionen auf 10,56Millionen angestiegen ist. Die Arbeiterkammer Wien lässt in Zusammenarbeit mit dem Wifo derzeit von der Donau-Universität erheben, wie hoch der Anteil psychisch bedingter Arbeitserkrankungen ist. Erste Ergebnisse werden zwar erst Ende des Jahres erwartet, doch schätzt AK-Arbeitspsychologe Michael Lenert, dass sich die Kosten dafür auf einem ähnlichen Stand bewegen dürften wie die für Krankenstände aufgrund körperlich belastender Arbeitsbedingungen – und diese liegen bei rund 1,4 Prozent des BIPs.

Während die Zahlen bei „klassischen“ psychiatrischen Diagnosen wie Schizophrenie stabil bleiben, nehmen vor allem jene Störungen zu, die mit den Anforderungen des täglichen Lebens zu tun haben. Das hat nach Ansicht der Experten viel dazu beigetragen, psychische Erkrankungen stärker in die Öffentlichkeit zu holen. Laut Psota sieht man immer häufiger Befunde wie Burn-out, Depression, Borderline, Panikstörungen und Demenz. Bis auf die letzte Erkrankung, die bis 2040 bereits 250.000 Personen in Österreich betreffen könnte, lassen sich für die anderen Erkrankungen gemeinsame Nenner wie „Druck“, „Überforderung“ und „Ausweglosigkeit“ herausarbeiten.

Gerade das Burn-out hat viel dazu beigetragen, dass über psychische Störungen offener geredet wird denn je. Allerdings sehen Experten dieses „hippe“ Phänomen zweischneidig. „Burn-out heißt auch, dass man wichtig ist, es ist fast eine Auszeichnung“, meint Kovazh. Patienten mit schweren Depressionen hingegen würden auch weiterhin ausgegrenzt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.09.2010)

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