Alzheimer: Leben hinter dem Vorhang

Alzheimer Leben hinter Vorhang
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Bücher über Alzheimer können sehr berühren. Der Alltag mit der Krankheit ist allerdings nicht romantisch. Man sollte sich aber daran gewöhnen, denn Europa droht eine Demenzwelle.

Um fünf Uhr schlägt der Bewegungsmelder an. Im Halbschlaf nimmt sie das Geräusch wahr, hört, dass er unterwegs ist. Aus dem Bett schafft sie es nicht, sie schläft erst seit zwei Stunden. Später zahlt sie den Preis dafür, putzt sein Bett und die Teppiche, macht Frühstück. Fährt mit ihm zum Supermarkt. Wie so oft ist die Autofahrt ein Kampf: Mitten in der Fahrt greift er hinüber und dreht den Zündschlüssel um. Das Mittagessen fegt er vom Tisch. „Wann gibt es Mittagessen?“, fragt er zwei Minuten später. Dann tigert er rastlos durch die Wohnung. Sie setzt sich in den Sessel, sehnt sich nach Ruhe. Stattdessen geht sie mit ihm spazieren. Gibt ihm seine Medikamente. Kontrolliert die Wohnung. Manchmal rüttelt er wütend an versperrten Türen, bis er sie aufgerissen hat. Lässt Wasser laufen. Räumt Bücher aus oder den Tiefkühler. Nach dem Abendessen kann es zwei Stunden dauern, bis sie ihn zu seinen Medikamenten überredet und ihn bettfertig gemacht hat. Dann sitzt sie da und starrt auf den Fernseher. Spätestens um drei Uhr ist er wieder unterwegs, will etwas arbeiten. Und dann beginnt alles wieder von vorn.

Der Fall von Christa und Herbert P. ist kein Einzelschicksal. Es ist das Los all jener, die an Alzheimer leiden, einer extremen Form der Demenz. Der Arzt Alois Alzheimer dokumentierte sie vor 100 Jahren zum ersten Mal an seiner Patientin Auguste Deter, die plötzlich begann, ihren Mann zu beschimpfen, das Essen absichtlich zu verderben und sich bald weder an etwas erinnerte noch jemanden in ihrer Umgebung erkannte. Bei der Obduktion ihres Gehirns fand Alzheimer Proteinklumpen im Gehirn, heute bekannt als Amyloid-Plaques. „Dabei handelt es sich um unverdauliche Beta-Proteine, die zu Ablagerungen verklumpen. Da sie sehr toxisch sind, verursachen sie Hirnschäden“, sagt der Alzheimer-Spezialist Peter Dal-Bianco, Leiter der Gedächtnisambulanz im Wiener AKH. Dazu kommt eine Veränderung der Tau-Proteine, die verkleben, sich in Nervenzellen ablagern und diese absterben lassen. Welcher Teil des Gehirns angegriffen ist, bestimmt, worunter der Kranke leidet: Vergesslichkeit, Erinnerungslücken, Wahrnehmungsverlust, Aggression. Am Ende werden jene Gehirnzentren lahmgelegt, die für Schlucken oder Atmung zuständig sind.

Bis 2050 elf Millionen Kranke in der EU.Wie viele Menschen davon genau betroffen sind, kann aufgrund der Dunkelziffer nur geschätzt werden. Sicher ist hingegen eines: Es werden immer mehr werden. „Für Europa ist Demenz das, was Aids für Afrika ist“, sagte der Chef der Psychosozialen Dienste in Wien, Georg Psota, vor einiger Zeit. Im Jahr 2000 gab es in Europa 4,7 Millionen Patienten mit Alzheimer (von insgesamt 7,1 Million Demenzkranken), bis 2030 soll es bereits acht Millionen Alzheimer-Patienten geben, bis 2050 mehr als elf Millionen.

Die Entwicklung in Österreich wird damit linear Schritt halten. Derzeit wird die Zahl der Alzheimerkranken hierzulande auf rund 100.000 geschätzt, bis 2050 soll sie auf 250.000 angewachsen sein. Der Grund für diese Zunahme ist ein einfacher: Da die meisten Personen im Alter von über 60Jahren an Morbus Alzheimer erkranken, ist schlicht die längere Lebenserwartung für den unaufhaltsamen Anstieg verantwortlich. Dafür spricht auch, dass zwei Drittel der Betroffenen Frauen sind, die nochmals eine höhere Lebenserwartung als Männer haben. Jede dritte Frau und jeder sechste Mann über 65 müssen damit rechnen, die Krankheit zu bekommen, heißt es auf der Website von „Forum Gesundheit“.

Es ist aber weniger der physische Aspekt, der Morbus Alzheimer zu einer so außergewöhnlichen Krankheit macht. Die besondere Grausamkeit liegt in dem, was verniedlichend gerne als „langsame Reise ins Vergessen“ bezeichnet wird. Wer an Alzheimer erkrankt, verliert nicht nur den Bezug zu seiner Umwelt, es verändert sich oft auch die Persönlichkeit. Männer, die ihr ganzes Leben verträglich waren, bekommen plötzlich Tobsuchtsanfälle, werden ausfällig und unberechenbar.

„Bin ein kompletter Trottel.“ In den ersten Phasen erlebt der Patient seine Veränderungen noch mit – was manche in abgrundtiefe Verzweiflung sinken lässt. „Jetzt bin ich schon ein kompletter Trottel“, sagte ein Patient unter Tränen der Verzweiflung zu seiner Frau. Andere versuchen, aktiv zu verarbeiten, was in ihnen vorgeht. So wie der amerikanische Psychologieprofessor Richard Taylor, der den Verlauf seiner Krankheit penibel aufzeichnet. „Es ist ein Gefühl, als säße ich im Wohnzimmer meiner Großmutter. Ich betrachte die Straße draußen durch ihre Spitzenvorhänge. Die Vorhänge haben Muster mit dicken Knoten, die mir die Sicht versperren. Manchmal bewegen sich die Vorhänge im Luftzug, und ich sehe etwas wieder, und dann schwingt die Gardine zurück, und ich bin wieder abgetrennt von meinen Erinnerungen“, sagte er im Interview mit dem „Spiegel“. Auch der britische Fantasy-Autor Terry Pratchett („Scheibenwelt“) gestattete der BBC, ihn ein Jahr lang in seinem Kampf gegen die Krankheit zu begleiten – auf seiner verzweifelten Suche nach Heilung. Die es für Alzheimer aber bisher leider nicht gibt.

Manchmal erledigen auch die Angehörigen diese Dokumentation – wie der Schriftsteller Arno Geiger, der gerade ein berührendes Buch über seinen alzheimerkranken Vater, „Der alte König in seinem Exil“ (siehe Interview), veröffentlicht hat.

Meistens aber findet der zunehmende Verfall mehr oder weniger unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. In Österreich werden drei von vier Demenzkranken von Familienangehörigen betreut – und zwar vor allem von ihren Ehepartnern. Und die sind auch nicht mehr die Jüngsten. „Wir hatten in den letzten Jahren drei Fälle, in denen die pflegenden Angehörigen an der Krankheit zerbrochen sind“, sagt Brigitte Letitzki, Leiterin des St. Barbara Senioren- und Pflegeheims der Caritas. Im St. Barbara gibt es ein Tageszentrum, in das Montag bis Freitag zwischen 25 und 30 Tagesgäste kommen, damit ihre Angehörigen durchatmen können.

„Welcher Tag ist heute?“ Günther Kieslich (72) ist einer von ihnen. Vor fünf Jahren begann er, seiner Frau Monika (heute 67) immer wieder dieselben Fragen zu stellen: „Welcher Tag ist heute?“ „Welches Jahr haben wir?“ Dann kam die Verwirrung im Alltag. Monika Kieslich reagierte rasch, ging mit ihrem Mann zum Arzt, er bekam Medikamente, die den Fortschritt der Krankheit verzögern und abmildern sollen. „Wir sind seit 51 Jahren zusammen“, sagt sie. „Gemeinsam haben wir einen Betrieb aufgebaut, gemeinsam gearbeitet, einen Sohn großgezogen. Nur unsere Pension haben wir uns anders vorgestellt.“ Ihr Mann sitzt daneben und lächelt milde.

Ihr Leben anders vorgestellt hat sich auch Ingrid Schär (67). „Wir sind immer gerne zum Volkstanzen gegangen“, sagt sie. „Ich höre mich noch, wie ich zu meinem Mann gesagt habe: ,Du merkst dir aber auch gar keine Figuren mehr. Reiß dich doch ein bisserl z'samm.‘“ Doch Werner Schär (75) konnte sich nicht mehr zusammenreißen. Der Mann, der im Jahr zwischen 8000 und 10.000Kilometer mit dem Rad gefahren war, gerne auf Reisen ging und als Schriftsetzer so wunderschöne Handschriften anfertigte, „dass man glaubt, das hat ein Mönch aus dem Mittelalter geschrieben“, verlegte damals bereits ständig seine Schlüssel oder verlor die Visa-Karte. Heute kann er seinen Namen nicht mehr schreiben. „Am Anfang dachten wir noch, da wird's doch Tabletten geben. Es gibt ja gegen alles was“, sagt Ingrid Schär. „Aber es gibt nichts. Es dauert lange, bis man das akzeptieren kann.“

„Gnade des totalen Vergessens.“ Wirklich akzeptieren kann Ingrid Schär die Alzheimer-Erkrankung ihres Mannes aber bis heute nicht. „Mein Mann war immer ganz liebevoll und freundlich. Dann wurde er plötzlich aggressiv und ausfällig. Das ist die Phase der Wut und Verzweiflung, die gegenüber der Umgebung ausgelebt wird. In Wahrheit wird diese Krankheit erst erträglich, wenn der Patient nichts mehr realisiert. Wenn die Gnade des totalen Vergessens kommt.“

Viele Angehörige kommen mit der gemeinen Ironie von Alzheimer kaum zurecht, die ihnen einen geliebten Menschen wegnimmt und ihnen stattdessen einen Pflegefall lässt, den sie an schlechten Tagen nicht wiedererkennen. Sie kämpfen permanent mit dem schlechten Gewissen, nicht mehr die Gefühle aufbringen zu können, die vorher in ihrer Beziehung einfach da waren: Liebe, Freundschaft, Vertrautheit. „Ich tue hier nur noch meine Pflicht“, sagt eine Angehörige. „Dazu gibt es für mich keine Alternative. Aber es ist nur noch Pflicht.“

Vielen wird aber nicht nur die psychische, sondern auch die physische Herausforderung der 24-Stunden-Betreuung und Bewachung zu viel, die ein Alzheimer-Kranker benötigt. Tageszentren schaffen zwar Abhilfe, ebenso Vereine wie Alzheimer Angehörige Austria (www.alzheimer-selbsthilfe.at), die Rat, Tat und Aussprache anbieten. „Was wir aber wirklich dringend brauchen, sind mehr mobile Helfer“, sagt eine Angehörige, die ihren Partner fünf Jahre lang gepflegt hat. „Und dass die Menschen bitte bei den ersten Anzeichen einen Arzt aufsuchen. Alzheimer ist schließlich keine Schande.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.02.2011)

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