Pilion: Griechisches Elysion

Pilion Griechisches Elysion
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Bäche plätschern, Tannen spenden Schatten, Herrenhäuser aus Stein und Holz kühlen, und unten schlagen die Wellen an den Strand.

Der letzte Sonnenstrahl des Tages verfängt sich in einer zerbeulten Plastikflasche am Strand von Volos-Alikes. Für Griechenland kein ungewohntes Bild – Container zur Mülltrennung gibt es zwar mittlerweile auch, nur nicht hier, sondern 14 Kilometer entfernt im Hinterland, am Eingang zur „Umweltschule“ von Makrinitsa.

Makrinitsa, das in den Hang hineingebaute Dorf 650 Meter hoch über dem Meer, steht für das andere Griechenland – das der dichten Laubwälder, der sprudelnden Quellen und Wasserfälle, das der Umwelterziehung und des sanften Tourismus. Kunstvoll gefertigte Steinhäuser mit Dächern aus Schieferschindeln prägen das Ortsbild. Sie hängen wie Adlerhorste an den schroffen Felsen und überragen gepflegte Gärten mit Swimmingpools und in Terrassen angelegte Obstplantagen. Das in einem solchen traditionellen Patrizierhaus untergebrachte Öko-Zentrum dokumentiert nicht nur, wie mit Aluminium, Plastik und Papier nach Gebrauch umzugehen ist, sondern zeigt auch den Reichtum an Naturschätzen, der das Pilion-Gebirge auszeichnet: Tannen, Eschen, Pinien, Pappeln und Buchen – edle Hölzer, aus denen einst die „Argo“ gezimmert wurde – jenes mythische Schiff, heute Wahrzeichen von Volos, mit dem die Seefahrer der Antike loszogen, um das goldene Vlies zu erobern.

Gepflasterte Wanderwege

Dokumentiert sind auch die unzähligen Heilpflanzen und seltenen Kräuter – an die tausend sollen es sein –, die auf den fast baumlosen Höhen des Berges Pourianos gedeihen und bis heute von den Frauen des Ortes gesammelt werden. Dem sagenumwobenen Pilion-Gebirge ordnet die griechische Mythologie auch die Kentauren zu, jene merkwürdigen Kreaturen – halb Mensch, halb Pferd, denen übernatürliche Kraft, Kriegsgeschick und Weisheit nachgesagt wurden.

Chiron, der berühmteste von ihnen, lehrte die Halbgötter und Heroen die Kunst des Heilens und brachte ihnen das Reiten und das Jagen bei. Bis heute rühmt sich die Gegend der unzähligen Sportarten, die das ganze Jahr über praktiziert werden können. Jemand, der um neun Uhr früh in Volos an der Strandpromenade seinen Kaffee trinkt, kann bis ins Frühjahr theoretisch 20 Minuten später in Agriolefkes auf Skiern stehen. Wanderwege, angelegt auf den steingepflasterten Pfaden, die einst dazu dienten, Obst und Gemüse zu den Schiffen im Hafen zu transportieren, verbinden heute Berge und Buchten, Piste und Badestrand.

Während im Rest von Griechenland nach drei Monaten Sommersaison alles stillsteht, setzt man hier auf Ganzjahrestourismus. Die Baumblüte im Frühjahr, das schattige Grün im Sommer, der bunte Herbst und der Schnee im Winter veranlassten viele der wohlhabenden Griechen dazu, hier einen Zweitwohnsitz zu erwerben. Gebaut von kunstfertigen Steinmetzen und Zimmermannsleuten Anfang des 18. Jahrhunderts, trägt das traditionelle Herrenhaus, griechisch „Archontika“, den Glanz alter, besserer Tage heute noch zur Schau.

Dicke Mauern aus Naturstein bilden das Fundament und das Erdgeschoß. Hier lagerten die Amphoren mit Öl, die Kisten mit Obst und die Fässer mit Wein... Eine hölzerne Treppe führt in den ersten Stock, wo sich die Küche befand und die Familie sich im Winter um das offene Feuer versammelte. Das Obergeschoß bildet eine Fachwerkkonstruktion, die durch zahlreiche Fensteröffnungen für Luft und Licht sorgte. Viele dieser burgähnlichen Häuser beherbergen heute kleine Hotels mit höchstens zehn Zimmern, Originalmöbeln und offenen Kaminen.
Rund 24 schön restaurierte Orte schmiegen sich an den Rücken des Pilion. Sie heißen Zagora, Kissos, Mouresi, Tsagarada, Aghios Ioannis, Mylopotamos, Portaria, Chania und Damouchari – hier wurde das Erfolgsmusical „Mamma Mia“ gedreht. Ihre einstigen Bewohner sind durch Seidenraupenzucht und Obst- oder Olivenanbau reich geworden, was die zahlreichen Kirchen, Klöster und Schulen bis heute belegen.

Den Ortskern bildet meist eine uralte Platane, um die herum sich die Tische und Sessel der Kafenions gruppieren. In den Tavernen wird nicht einfach bestellt, gegessen und getrunken, sondern nach strengem Ritual getafelt. Zeremonienmeister ist der Tsipouradiko, der Wirt. Kaum hat man Platz genommen, bringt er schon das erste Fläschchen Tsipouro. Es enthält exakt 25 ml dessen, was im Rest von Griechenland Ouzo heißt. Warum sich genau diese Menge seit den 20er-Jahren in der Region Volos durchgesetzt hat, bleibt offen. Fest steht nur, dass zu jedem flüssigen Gang zwei Teller mit kleinen Häppchen folgen müssen: einmal sind es eingelegte Steinpilze und gegrillter Oktopus, dann Langusten und Seeigel, dann gefüllte Weinblätter und Käse-Raclette, dann Spargelsalat und Fleischbällchen... Keine der Speisen wird zweimal an den Tisch getragen. Je trinkfester der Gast, desto vielseitiger und abwechslungsreicher fällt das Mahl aus. Dionysos lässt grüßen!

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.05.2011)

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