S - wie Sarrazin: Der Aufreger des Jahres

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„Deutschland schafft sich ab“ verkauft sich millionenfach. Die Debatte über Integration währte nur kurz.

Allein in Deutschland wurde das Buch bereits 1,2 Millionen Mal verkauft, seit Monaten führt es die Sachbuch-Bestsellerlisten an: Thilo Sarrazin hat mit seinem Wälzer „Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen“ sichtlich einen Nerv getroffen. Schon vor dessen Erscheinen Ende August kochte – auf Basis der ersten publizierten Auszüge – die Debatte über Integration hoch; Sarrazins Thesen zu angeblicher Integrationsunwilligkeit und mangelnder Intelligenz muslimischer Zuwanderer und der Gefahr, die sie für Deutschland darstellen, kostete ihn seinen Job im Bundesbankvorstand. In der SPD läuft ein Ausschlussverfahren gegen den früheren Berliner Finanzsenator, der sich nun die Zeit mit Lesereisen und Talkshow-Auftritten vertreibt und die Millionenbeträge, die sein Buch einbringt, erst einmal auf sein Konto überweist– „und dann warten wir in Ruhe ab“.

„Diese Situation hält keiner durch“

Der plötzliche Reichtum habe sein Leben nicht verändert, sagt der 65-Jährige. Wohl aber die Aufregung über sein Buch, und das nicht nur, weil er seinen Posten verlor. Letztlich war Sarrazin „freiwillig“ gegangen und damit Bundespräsident Christian Wulff der unangenehmen Aufgabe enthoben, über den Antrag der Bundesbank auf vorzeitige Abberufung ihres Mitglieds entscheiden zu müssen. „Diese Situation hält keiner durch“– so erklärte Sarrazin seinen „strategischen Rückzug“, er wolle sich nicht mit der gesamten politischen Klasse in Deutschland anlegen.

Selbst jemanden wie Sarrazin, der gern zuspitzt und provoziert und nie Emotionen zeigt, dürften die Reaktionen, die sein Buch zunächst ausgelöst hat, nicht ganz kaltlassen– obwohl sie umgekehrt natürlich den Verkauf angekurbelt haben. In Interviews sprach er von Schlaf- und Essstörungen, den „verleumderischen Charakter mancher Reaktionen“ empfindet er als „deplatziert“.

Sarrazin ist jedoch entschlossen, Themen, die ihm wichtig sind, weiter zu beackern. Inhaltlich will er offiziell nichts zurücknehmen, hat in der Neuauflage seines Buches aber stillschweigend einige Passagen entschärft – ohne darüber zu reden oder die Änderungen in dem „Vorwort zur neuen Auflage“ zu erwähnen. Im Zusammenhang mit der Gebärfreudigkeit von Musliminnen heißt es etwa im ursprünglichen Text: „Demografisch stellt die enorme Fruchtbarkeit der muslimischen Migranten eine Bedrohung für das kulturelle und zivilisatorische Gleichgewicht im alternden Europa dar.“ Hier fügte Sarrazin zur Relativierung „auf lange Sicht“ ein. Einen Satz zu „genetischen Belastungen“ von Migranten aus dem Nahen Osten, die aus der dort üblichen Heirat unter Verwandten resultierten, strich er komplett.

Inzwischen hat sich die erste Welle der Empörung gelegt, andere dringliche Themen wie die Terrorgefahr eroberten die Schlagzeilen, auch banalere wie das Schneechaos. Sarrazin gibt sich wieder selbstbewusst wie eh und je, zumal ihm prominente SPD-Mitglieder den Rücken stärken. So bezeichnete etwa Altbundeskanzler Helmut Schmidt das Ausschlussverfahren als den falschen Weg; Sarrazin habe recht, was die Integrationsbereitschaft und -fähigkeit „vieler Muslime“ angehe. Ähnlich äußern sich auch Ex-Finanzminister Peer Steinbrück oder der langjährige Chef der SPD-Bundestagsfraktion Peter Struck.

Auch die Parteibasis und die SPD-Wähler sind mit dem eilig eingeleiteten Ausschlussverfahren nicht zufrieden. Ohnehin war die Causa für die SPD, die sich allmählich von ihrem Debakel bei den Bundestagswahlen 2009 erholte, ein Rückschlag. Parteichef Sigmar Gabriel ruderte zuletzt ein bisschen zurück. Er schließt eine Einigung mit Sarrazin nicht mehr völlig aus: „Ich habe ein aufgeklärtes und modernes Weltbild und hoffe immer auf die Einsicht von Menschen.“ Sarrazin hatte seinerseits bis Ende des Jahres Zeit, eine Stellungnahme in der SPD-Zentrale abzugeben.

62 Prozent finden Denkanstöße berechtigt

In der deutschen Bevölkerung sind Sarrazins Thesen durchaus auf fruchtbaren Boden gefallen. 62 Prozent finden laut Umfragen, dass er berechtigte Denkanstöße gibt. Für viele ist er einer, der ausspricht, was Sache ist. Immerhin fast jeder fünfte Deutsche (18Prozent) würde eine neue Partei wählen, würde sie von Sarrazin angeführt. Derlei Ambitionen hat er aber nach eigenen Angaben nicht.

Das Buch „Deutschland schafft sich ab“ hat das vernachlässigte Thema Integration immerhin für eine Zeit lang wieder in den Vordergrund gerückt. Ob die Debatte der Sache diente, muss bezweifelt werden. Vorhandene Gräben scheinen sich eher vertieft zu haben; ohnehin ist das Interesse wieder abgeflaut. Bundeskanzlerin Angela Merkel bezeichnete das Buch als „nicht hilfreich“ und zugleich Multikulti als gescheitert, Innenminister Thomas de Maizière (beide CDU) räumte Probleme bei der Integration ein. Außer einhelliger Entrüstung über Sarrazins Thesen fiel den Politikern nicht besonders viel ein. In den Buchhandlungen gehen die Exemplare des umstrittenen Werks unterdessen weg wie die warmen Semmeln.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.12.2010)

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