Wie eine Agentur die Welt in ihr eigenes Büro holte

Authors in Residence. Dieter Rappold (Vi Knallgrau) wollte mehr über Digital Storytelling erfahren. Er lud vier junge Leute aus Russland, Indien, Japan und Australien ein, drei Monate lang zu experimentieren und Geschichten zu erzählen.

Artist in Residence – dieses Konzept ist bekannt. Programme für Composer, Writer, Curator in Residence werden im Kunstbetrieb regelmäßig ausgeschrieben, Manager und Researcher in Residence gern von Unis eingeladen.

Unternehmen hatten bislang kein Interesse an „In Residence“-Programmen. Anders die Digital-Agentur Vi Knallgrau. Aus mehr als 70 Bewerbern aus 15 Ländern und sechs Kontinenten lud sie vier Authors in Residence (AiR) nach Wien ein, drei Monate lang ihre Gedanken zum Thema Digital Storytelling zu bearbeiten und die Geschichte, die sie schon immer einmal erzählen wollten, zu präsentieren. Im Gegenzug bekamen sie Kost, Logis und ein Stipendium.

„Unser Wissen hat sehr kurze Halbwertszeit“, sagt Agentur-Gründer Dieter Rappold. „Wir müssen uns ständig fragen: Was ist Stand der Dinge, wohin entwickeln sich die Dinge? Viele unserer Kunden sind international tätig – also brauchen wir auch den globalen Blick.“ Ihn lieferten die Russin Elena Lyubarskaya, die Inderin Indu Harikumar, die Japanerin Yuko Wasabi und der Australier Stu Campbell.

Beim Storytelling werden die Zuhörer in die erzählte Geschichte eingebunden, etwa um Traditionen, Werte und Kultur eines Unternehmens besser zu vermitteln. Im digitalen Storytelling können User dank technischer Möglichkeiten noch stärker eingebunden werden. Zudem muss die Geschichte nicht mehr linear erzählt werden – digitale Formate ermöglichen, an beliebigen Stellen ein- und auszusteigen. AiR-Teilnehmer Campbell beispielsweise erzählte die Geschichte seines dementen Großvaters: Elegant lässt sich darin nach unten scrollen, um die Geschichte des Mannes zu lesen und in Bildern nachzuvollziehen. Doch wer sich bereits gelesene Kapitel noch einmal ansehen will, hat Pech: Nach oben zu scrollen funktioniert nicht – ganz so, wie demente Menschen Stück für Stück ihre Erinnerung verlieren.

Neben den Abschlussarbeiten brachte AiR allen Beteiligten eines: neue Einsichten. Harikumar bastelte immer wieder Kleinigkeiten aus Alltagsgegenständen. „Warum“, fragt sich Rappold, „produzieren wir nicht mehr aus Dingen, die schon da sind?“ Digitale Inhalte seien auch immer wieder ein „Remix und Mash-up“.

„Es passiert von allein“

Regelmäßig kamen seine Mitarbeiter und die AiR-Teilnehmer in Kontakt. „Am schönsten fand ich“, sagt Rappold, „wenn der Austausch in unsere Rituale eingebettet war.“ In der Agentur wird täglich gemeinsam gekocht. Einige Male bereitete Harikumar indische Gerichte. Diese Erlebnisse würden in der Organisation weiterarbeiten, sagt Rappold. Genauso wenn Mitarbeiter bei den Arbeitsplätzen der AiR-Teilnehmer vorbeischauten oder gemeinsam einen Kaffee tranken: „Es ist nicht gezwungen, es ist möglich, es passiert von allein.“ Denn mit Druck lasse sich das nicht erreichen. Wenn die Beschäftigung mit dem Neuen zum Zwang werde, erzeuge das nur Widerstand. (mhk)

www.virtual-identity.com/air15 (ab 15. Juni)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.05.2015)

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