art €co: Komplexität ist nicht gleich Komplexität

Teil 3. Was Sie immer schon über Komplexität wissen wollten: Die neue „DiePresse.com“-Serie über Kybernetik als Denk- und Strategieschule.


„Die Presse“: Vergangene Woche haben wir besprochen, welche kritischen Folgen entstehen, wenn man Fachbegriffe nicht gemäß ihrer Definition verwendet. Wie definiert man Komplexität am besten, um im Management erfolgreich zu sein?

Maria Pruckner: „Komplexität“ wird in der Wissenschaft für verschiedenste Zwecke unterschiedlich definiert. Um zu verstehen, was generell mit Komplexität gemeint ist, schlage ich vor, sich den lebendigen menschlichen Organismus vorzustellen. Das ist ein System aus unendlich vielen verschiedenen miteinander verbundenen Subsystemen und Elementen, von denen wir gar nicht alle kennen. Aber selbst wenn wir alle kennen würden, bringen ihre eigendynamischen Wechselwirkungen laufend andere Zustände und Ereignisse, also Veränderungen hervor. Sie kehren nie wieder in einen früheren Zustand zurück. Man kann die Ursachen und Wirkungen nicht lokalisieren, weil alles mit allem zusammenwirkt. Was in komplexen Systemen vor sich geht, lässt sich daher weder vollständig erfassen, noch beschreiben, abbilden, fotografieren oder filmen, und auch nicht vollständig erklären.

Josef Fritz: Was passiert, übersteigt das menschliche Vorstellungs- und Fassungsvermögen. Wir stehen beim Arbeiten, Problemlösen und Managen ständig vor Orientierungs-, Erkenntnis- und Denkproblemen, an denen unsere Intuition scheitert. Wir müssen uns daher, wie in der Medizin, an den verlässlichsten Forschungsergebnissen orientieren.

Aber Intuition wird oft als probates Mittel für das Meistern von Komplexität empfohlen?

Pruckner: Es hat gute Gründe, warum selbst erfahrenste Ärzte trotz ihrer hervorragenden Intuition nichts tun, ohne einen Patienten zuvor genau zu untersuchen. Sie wissen nur zu gut, dass jeder Fall anders ist und sie sich täuschen können.

Gibt es im Management eigentlich irgendetwas, was nicht komplex ist?

Pruckner: Ob etwas als komplex oder einfach erscheint, hängt nur vom Wissen des Betrachters ab. Papier etwa mag einem Laien einfach erscheinen. Sieht man sich aber zum Beispiel an, welcher Aufwand in einer alten Bibliothek betrieben werden muss, um Papier in seinem Zustand zu erhalten, sieht die Sache sofort ziemlich komplex aus.

Heinz von Foerster hat von der trivialen und nichttrivialen Maschine gesprochen. Was hat er mit diesen Modellen gemeint?

Pruckner: Er hat von trivialen Maschinen gesprochen, wenn es um Verhältnisse geht, bei denen anhand des Inputs schon klar ist, was der Output sein wird. Das bezieht sich letztlich immer auf Theorien und Regeln, zum Beispiel dass bei der Rechnung 1+1 auf der ganzen Welt 2 herauskommen muss. Mit der nichttrivialen Maschine hat er hingegen die komplexen Verhältnisse in der Praxis illustriert, wo immer mehr zusammenwirkt, als in Regeln oder Theorien beschrieben werden kann. Da kann es passieren, dass ein Kind die Frage nach dem Ergebnis von 1+1 nicht mit 2 beantwortet sondern mit: Ich gehe jetzt spielen.

Mit Überraschungen muss also immer gerechnet werden?

Fritz: Genau. Eine hilfreiche Metapher wäre die Black Box. Wir bekommen von allem, was Management verlangt, immer nur das Oberflächliche zu sehen. Was im Inneren eines Systems vor sich geht, bleibt intransparent, egal ob es sich um Menschen handelt, Abteilungen, ganze Unternehmen, Märkte, Regierungen etc.

Könnte man dann sagen, das Grundproblem im Management ist von Natur aus, intransparente Vorgänge richtig zu beurteilen und vorherzusehen?

Fritz: Genauso kann man es auf den Punkt bringen.

Habe ich richtig verstanden, dass mit „Komplexität“ zum Ausdruck gebracht wird, dass es immer um einzigartige, nicht wiederholbare Konstellationen geht, die noch dazu kein einzelner Mensch vollständig erfassen kann?

Fritz: Ja, genau. Es gibt nicht die eine Komplexität und die eine Lösung dafür. Es gibt vielmehr nie zweimal dieselben Probleme. Es gibt nur Probleme, die einander, oberflächlich betrachtet, so wie Masern und Röteln, zum Verwechseln ähnlich sehen, aber jeweils ganz andere Hintergründe haben und daher ganz anders behandelt werden müssen. Ja, und vor allem, Komplexität bedeutet: Zu viel Information für ein einzelnes Gehirn.

Wobei hilft hier die Kybernetik?

Pruckner: Was die Medizin für den Organismus ist, ist die Kybernetik für Organisationen und Systeme an sich und zwar was die Diagnose, Prognose von Problemen und deren Behandlung betrifft. Bei der Entwicklung der Kybernetik ging es darum, das prinzipiell Unvorhersagbare doch vorhersagbar zu machen. Das gelingt anhand der früher angesprochenen Gesetzmäßigkeiten oder Sollwerte, die alle effektiven Systeme aufweisen und anhand besatimmter Muster von Dynamiken, die immer entstehen, wenn Interaktionen in Systemen von diesen Sollwerten abweichen. Wir haben also eindeutige Designprinzipien für höchste Effektivität. Mit ihrer Hilfe kann man schon anhand eines Gedankens vorhersagen, wohin er führen wird, wenn er sich durchsetzt. Deshalb stellt man sich unter der Allgemeinen Kybernetik am besten eine Denk- und Strategieschule vor.

Wohin führt die weit verbreitete Idee, Komplexität zu reduzieren oder zu verhindern?

Fritz: Ich kenne nur einen einzigen zynisch gemeinten Satz von Heinz von Foerster: Je tiefer das Problem, das ignoriert wird, umso mehr Chancen auf Ruhm und Erfolg. Man macht sich damit bei naiven Menschen beliebt, aber man löst damit keine Probleme.

Pruckner: Angst und Stress sind die am besten erforschten Reaktionen des Menschen auf Komplexität. Bei Laien kommt es vielfach gut an, das abschaffen oder beseitigen zu wollen, was Angst macht. Das hat schon immer funktioniert. Früher hat man Hexen und Ketzer verbrannt, heute möchte man Komplexität reduzieren. Das ist pure Realitätsverweigerung, die den Fortschritt verhindert.

In der BWL konzentriert man sich vom Rohstoff bis zum Menschen auf all das, was man messen und berechnen kann. Welche Werte muss man beachten und wie muss man sie beurteilen, um komplexe Situationen treffsicher zu beurteilen?

Pruckner: In der Kybernetik konzentriert man sich darauf, welche Informationen gewonnen, wie sie verarbeitet und welche Wirkungen bzw. Ergebnisse dadurch erzielt werden, also auf das, was gelernt wird. Wir fragen danach, ob rasch genug das gelernt wird, was gewusst und beachtet werden muss, um die Zwecke und Ziele des Systems zu realisieren und ob Fehlwirkungen rasch genug erkennt und korrigiert werden.

Fritz: Es geht immer darum, ob Menschen erkennen und verstehen, was in Black Boxes vor sich geht und daher nötig ist.

Kommende Woche in art €co: Wie man erfolgreich sein kann, ohne eine Ahnung haben zu können, was in Black Boxes vor sich geht.

Die Serie im Überblick:

Art €co 0: Was Sie immer schon über Komplexität wissen wollten

Art €co 1: Komplexität – ein Missverständnis

Art €co 2: Komplexität – Fachsprache ist nicht Alltagssprache

Art €co 3: Komplexität ist nicht gleich Komplexität

Art €co 4: Komplexität – Keine Ahnung und trotzdem erfolgreich

Art €co 5: Komplexität – Lösen Sie die falschen Probleme?

Art €co 6: Komplexität, Zwecke und Ziele

Art €co 7: Dumm sterben lassen

Art €co 8: Feedback kann man nicht geben

Art €co 9: Warum Führen so schwierig ist

Art €co 10: Ist es sinnvoll, Macht zu haben?

Art €co 11: Vertrauen hat Vorrang

Art €co 12: Verantwortung – die Quelle des Gelingens

Art €co 13: Meister der Komplexität

Art €co 14: Chefs und Chefinnen

Maria Pruckner ist selbstständige Organisationskybernetikerin und widmet sich seit 1976 dem effektivsten und wirtschaftlichsten Umgang mit Komplexität und ihrer hohen Dynamik in Unternehmen, Institutionen und anderen Organisationen. Sie arbeitet für interne und externe Berater, Führungskräfte und Manager. Viele Jahre war sie strategische Beraterin von Fredmund Malik beim Aufbau seines Malik Management Systems. Auch einige seiner wichtigsten Bücher wurden von ihr überarbeitet bzw. getextet. Ihr fachlicher Werdegang entstand durch ihre langjährige Erfahrung in der Medizin und Pflege, die Entwicklung patientenzentrierter Krankenhausorganisation und kybernetischer Patientendokumentationssysteme. Die Schülerin und enge Vertraute von Heinz von Foerster, einem der wichtigsten Mitbegründer der Kybernetik, zählt aufgrund ihrer Publikationen und Aktivitäten seit Anfang der 1990er zu den internationalen Vorreitern für ein wirksames Arbeiten, Problemlösen und Führen in der Digitalen Ära.

Josef Fritz war 20 Jahre im Top-Management als CEO und CFO im Bankwesen,  Bauindustrie, Tourismus, M&A-Branche, Systemgastronomie und Franchise, Immobilienwesen – und das sowohl in Konzernen als auch in Familienunternehmen tätig. Seit längerem widmet sich der Wirtschaftsavantgardist mit Boardsearch der Suche von Aufsichtsräten, wofür er jahrzehntelange, auch internationale, Erfahrung mitbringt.

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Serie. Cyber-Space, Cyber-Café, Cyber-Attacke. Mit „Cyber“ scheinen wir vertraut zu sein, aber kaum jemand kennt die Wurzel: Cybernetics. Die neue „DiePresse.com“-Serie über Kybernetik als Denk- und Strategieschule.

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