Venedig: Eine Film-Mostra ohne Asse in den Ärmeln

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Das Filmfestival Venedig feierte seinen 70. Geburtstag, aber dahinter ist Krisenstimmung zu spüren: Es fehlt das Interesse an Entdeckungen. Die Höhepunkte des Wettbewerbs kamen von Veteranen.

Der Geist der Krise hat Venedig erreicht. Die Filmfestspiele blickten heuer selbstbewusst auf 70 Ausgaben zurück. Doch sie laufen gleichzeitig Gefahr, ihre Zukunft zu verspielen. War der Lido in der Vergangenheit oft ein Ort der filmischen Einkehr der Auserwählten, wandeln sich nun die Ansprüche. Freilich spricht einiges dafür, dem Kino das Populäre zu lassen, die Tendenz geht allerdings in eine dritte Richtung: Die Risikovermeidungsstrategien, die aktuell die Filmproduktion in vielen westlichen Ländern prägen, übernehmen auch das Denken der Auswahlgremien. Noch hat es das Venedig-Programm nicht komplett in Beschlag genommen, etablierten Autoren bleibt zumindest jenseits des Wettbewerbs ein Platz reserviert. Doch gerade dort, wo Experimentierlust dringend nötig wäre, bei der Entdeckung der Talente, sieht es nicht nach einer Rückbesinnung auf diese alte Tugend aus.

Großspurig wurde zu Beginn der 70. Filmfestspiele noch gegen die Publikumsfestivals Berlinale und Toronto gewettert. In Venedig stehe nicht die Masse, sondern die Kunst im Vordergrund. Dabei ist der seit 2012 amtierende künstlerische Leiter, Alberto Barbera, der sich in Interviews zu diesen Stellungnahmen hinreißen ließ, konsequent am Werk, die „Mostra del Cinema“ ihres zuvor mühevoll erarbeiteten avantgardistischen Profils zu berauben und den künstlerischen und intellektuellen Mittelbau ins Zentrum zu stellen. Nur ist nichts verheerender für ein elftägiges Event als gepflegte Langeweile. Der Ruf von Filmfestivals lebt von ihrem Erlebnischarakter. Neben den Premieren und Stars sind Überraschungen und Eklats die Asse in ihren Ärmeln. Venedig blieb sie bis zuletzt weitgehend schuldig.


Verringerte Bedeutung. Enttäuschungen gab es schon vor Beginn der Festspiele, als bekannt wurde, dass einige lang ersehnte Uraufführungen nicht am Lido stattfinden: Barbera machte kein Hehl daraus, dass er etwa „12 Years a Slave“ des Briten Steve McQueen („Shame“) und „Captain Phillips“, den neuen Thriller des formbewussten Blockbuster-Regisseurs Paul Greengrass („Das Bourne Ultimatum“), gern gezeigt hätte. Letzterer wird das erstarkte New York Film Festival eröffnen, Ersterer wird in Toronto uraufgeführt – obwohl die nordamerikanischen Festivals weniger um exklusive Premieren bemüht sind. Recht eindeutig verweisen diese Beispiele daher auf die verringerte Bedeutung der Startplattform Venedig für die Produzenten.

Das Steckenpferd von Barberas Vorgänger Marco Müller – der nun das finanziell üppig ausgestattete Festival von Rom leitet – war Asiens Kino. Das ist zunehmend in Sondervorstellungen „außer Konkurrenz“ verdrängt, aber immerhin boten 2013 Werke von Tsai Ming Liang, Wang Bing und Kim Ki-duk bleibende Momente. Vor allem konzentrierte sich jeder auf seine Stärken: Kim auf die expressive Inszenierung eines actionreichen Films unter völligem Verzicht auf Dialoge; Wang auf die sinnliche Erfahrung eines Infernos, bei dem die Internierten einer Irrenanstalt durch seinen geduldigen und zärtlichen Blick erst zu Menschen werden; Tsai wiederum mutiert das Leben zum Tableau und ironisiert wie nebenbei seine eigene Vernarrtheit in Bilder. Sein „Stray Dogs“, als einziger dieser drei Filme im Wettbewerb, erzählt von einer obdachlosen Familie in Taipeh. Der Vater verdingt sich am Straßenrand als Werbeschild, die Kinder streifen umher. Neben vielen hyperrealistischen, langen Einstellungen exerziert Tsai in surrealen Szenen mögliche Überlebens- und Endzeitszenarien durch. Tsais Kunst liegt in der engen Verwebung von tiefem Ernst und befreiender, unterschwelliger Komik.


Kinowunder von Garrel. Am vorletzten Wettbewerbstag gab es mit Philippe Garrels „La jalousie“ ein kleines Kinowunder zu besichtigen. In bester Nouvelle-Vague-Tradition fängt er mit einer mobilen 35-mm-Kamera Liebes- und Lebensgeschichten junger Erwachsener in beglückendem Schwarz-Weiß ein: Der Mann ist ein großer Romantiker, der an Liebeserklärungen nicht spart, die Frau eine Pragmatikerin. Um sie bildet sich ein Netz an Beziehungen, die vom Bemühen und der Fehlbarkeit des Menschen zeugen. Dem elliptischen Bilderreigen um die titelgebende Eifersucht gelingt eine seltene Balance zwischen Prägnanz, Spontaneität, poetischem Überschwang und Wahrhaftigkeit. Obwohl Garrel ein alter Bekannter der Mostra ist und mit seinem größten internationalen Erfolg „Les amants réguliers“ 2005 in Venedig den Preis für die beste Regie einheimste, hat keiner mit dem zarten, aber überwältigenden Erlebnis gerechnet, den dieser kleine Film auf den letzten Metern des Festivals bescherte.

Zu den bekannten Autorenfilmern, mit denen alle rechneten, gehörten zwei Filmemacher, die sich dem Genre annäherten: US-Regisseurin Kelly Reichardt mit dem entschleunigten Ökoaktivisten-Thriller „Night Moves“ und der Quebecer Xavier Dolan mit dem erotischen Psychothriller „Tom at the Farm“. Beide konterkarierten die Erwartungen auf ihre Weise. Der erst 24-jährige Dolan warf für seinen in sich stimmigen, in seinem Minimalismus aufregenden Film seine stilistischen Eigenheiten über Bord. Reichardt interessiert sich nach wie vor mehr für menschliche Dynamiken als für dramatische Wendungen, setzt diesmal aber statt auf naturalistisches Schauspiel mit Darsteller Jesse Eisenberg („The Social Network“) auf das in den USA beliebte Overacting, bei dem das Spiel selbst als Leistungsschau zu bewundern ist. Gegen Neuausrichtungen ist nichts einzuwenden, gegen Risikovermeidungsstrategien schon.

Tendenzen der Gefahrenminimierung sind oft Symptome einer Krise. Um die Bewältigung einer solchen ging es an einer entscheidenden Stelle des außer Konkurrenz laufenden Dokumentarfilms „At Berkeley“. Regisseur Frederick Wiseman lauscht in seiner vierstündigen Beobachtung universitärer Prozesse einer Diskussion zum Zusammenhang von Demokratie und Eliten. Eine Professorin plädiert dafür, bereits eine kleine Gruppe könne die Geschichte verändern, etwa indem sie gesellschaftliche oder wirtschaftliche Krisen für Paradigmenwechsel im Denken nutze. Wiseman stellt diese und weitere Fragen, die in der Politik durchaus umstritten sind. In der Kunst hingegen gibt es selten Zweifel an der Bedeutung von Avantgarden – außer beim Film, dieser einen Kunstform, bei der wie verzweifelt die Zuschauerzahlen als Erfolgsbeweis vorgerechnet werden.


Twitter-Komödie. Paradigmenwechsel kann man in Venedig vor allem beim Umgang mit Neulingen beobachten. Steht kein bekannter Name drauf, wird das Festival vorsichtiger. Der Zweitbewerb „Orizzonti“ wurde um die radikaleren Filme entschlackt, die Sehkonventionen hinterfragen. Einen neuen Wang Bing würde Venedig heute nicht mehr entdecken. Die neue Reihe Biennale College Cinema soll Förderung und Plattform sein – und bot immerhin ein interessantes Experiment: Der Thailänder Nawapol Thamrongrattanarit präsentierte eine Adaption von mehreren hundert Twitter-Nachrichten in Komödienform. Sein lakonischer Humor und sein starker Formwille lassen darauf hoffen, hier das Aufkeimen eines komödiantischen Talents wie beim Südkoreaner Hong Sang-soo beobachten zu können. Barbera, der am Ende seiner ersten Amtszeit von 1999 bis 2001 bereits einmal einen Nachwuchswettbewerb eingerichtet hat, steht mit der College-Reihe wieder für die Ausklammerung des Neuen aus dem Alten. Dabei lebt ein vitales Festival gerade von deren Konfrontation.

Stars, doch wenig kunst

Die 70. Filmfestspiele von Venedig boten zwar Stars für die Fotografen – schon zur Eröffnung kamen Italo-Favorit George Clooney und Sandra Bullock für Alfonso Cuarons Science-Fiction-Film „Gravity“. Der Wettbewerb wurde aber von der Kritik reserviert aufgenommen. Publikumsliebling war Stephen Frears' Rührstück „Philomena“ mit der für den Darstellerinnenpreis favorisierten Judi Dench als Frau, die sich auf die Suche nach ihrem Kind macht, das einst gegen ihren Willen zur Adoption freigegeben wurde. Gelobt wurde sonst eher der (schmale) Anteil an anspruchsvoller Filmkunst, vor allem „Stray Dogs“ vom Taiwanesen Tsai Ming Liang.

Lob für Waltz. Andere mit Spannung erwartete Filme enttäuschten: Darunter Terry Gilliams Science-Fiction-Film „The Zero Theorem“, obwohl der Österreicher Christoph Waltz für seine Darstellung eines Computergenies gelobt wurde – oder Jonathan Glazers „Under the Skin“ mit Scarlett Johansson als menschenfressende Außerirdische.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.09.2013)

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