Kulturhauptstadt Ruhr 2010: Die Wunder von Essen

(c) EPA (Julian Stratenschulte)
  • Drucken

Vom mittelalterlichen Dom über Zeugen der Industrie bis zu modernster Museumsarchitektur: Eine Region präsentiert ihren Wandel.

Hartwig Fischer schwelgt in den höchsten Tönen: „Das Wunder von Essen“ ist für den Direktor des Folkwangs dieser Museumsneubau, der alle Träume erfüllt. Möglich wurde er durch ein Geschenk von Berthold Beitz, genauer, der von ihm präsidierten Krupp-Stiftung, die die Kosten von 55 Millionen Euro übernahm. Der englische Architekt David Chipperfield umbaute den denkmalgeschützten Altbau von 1960 mit Sälen, die durch Innenhöfe und Gänge miteinander verbunden sind und viel natürliches Licht zulassen. Man geht durch dieses transparente Museum beinahe wie durch rechtwinklig angeordnete Pavillons in einem Park. Die grünlich schimmernde Fassade aus recyceltem Glas öffnet sich mit Rampen und Treppen zur Innenstadt, der das Museum früher den Rücken zuwandte.

Das Folkwang besitzt eine gemischte Sammlung, die von alter und außereuropäischer Kunst bis zur Gegenwart reicht. Eine große Grafikabteilung gehört ebenso dazu wie das Deutsche Plakatmuseum. Zur Neueröffnung werden Kostbarkeiten aus der Zeit nach 1945 präsentiert. Gleich beim Betreten des Hauses fällt eine Fotoarbeit von Andreas Gursky, „PradaII“, ins Auge, in den Sälen finden sich Werke von Jackson Pollock bis Frank Stella, auffallend Barnett Newmans „Gefesselter Prometheus“, ein Wolkenbild von Gerhard Richter, Installationen von Jessica Stockholder und Simon Starling. Im März werden dann die alten Schmuckstücke der Sammlung hervorgeholt für die Ausstellung „Das schönste Museum der Welt“.

„Das schönste Museum der Welt“

So wurde das Folkwang 1932 gelobt, als es eine der berühmtesten Sammlungen von Renoir und Manet über Cézanne, van Gogh, Matisse bis Franz Marc, Beckmann und Kirchner besaß. 1937 konfiszierten die Nationalsozialisten mehr als 1400 der „entarteten“ Kunstwerke, die heute in der ganzen Welt verstreut sind. Für die große Ausstellung kommen manche von ihnen als Leihgaben nach Essen zurück, um an das Folkwangmuseum vor 1933 zu erinnern.

Die Vergegenwärtigung der Vergangenheit ist das heimliche Motto der Kulturhauptstadt Essen und Ruhrgebiet. Das wird deutlich, wenn man in die Straßenbahn 107 steigt, die zur „Kulturlinie“ erklärt wurde, und in den Norden der Stadt fährt, wo einst der Reichtum der Kohle- und Stahlbarone erarbeitet wurde. Unterwegs schweift der Blick über endlose Reihen von Arbeitersiedlungen aus den 40er-, 60er- und 80er-Jahren, für die sich (noch?) kein Denkmalschützer interessiert. Dann kommt das zweite Wunder von Essen in den Blick: Die riesige Schachtanlage der Zeche Zollverein, die 1986 stillgelegt und 2001 von der Unesco zum Weltkulturerbe geadelt wurde.

Kultur in historischen Industriebauten

Die Zeche Zollverein ist das Herzstück des neuen Ruhrgebiets, das sich den Strukturwandel durch Kultur auf die Fahnen geschrieben hat: Hier soll die Kreativwirtschaft aufblühen, von der man sich neue Arbeitsplätze und ein neues Image erhofft. Ein Designzentrum ist ins Kesselhaus eingezogen, in der Waschkaue – hier befreiten sich die Bergleute vom Kohlenstaub – wird getanzt, in der Kokerei oft Theater gespielt. Das riesige Gelände ist nur eine von vielen denkmalgeschätzten Industrieanlagen im Ruhrgebiet: Vom Stahlwerk in Duisburg über den Gasometer in Oberhausen bis zu den Jugendstil-Maschinenhallen in Dortmund, Gladbeck und Bochum führt die Route der Industriekultur zu 25 Sehenswürdigkeiten. Ihnen allen soll mit Kultur neues Leben eingehaucht werden. Aber so viele Designagenturen und Festivals kann es gar nicht geben, um die Menge von Arbeitsplätzen zu ersetzen, die in Kohle und Stahl verloren gingen – schon gar nicht in Zeiten der leeren Kassen der Ruhrgebietskommunen! Darum warnt Claus Leggewie, Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen, davor, das Heil der Region in einer Musealisierung der Industrie zu suchen, und fordert stattdessen, in ökologische Innovationen zu investieren.

Was die Montanindustrie für die Region an Ruhr und Emscher bedeutet hat, zeigt eindrücklich das neue Ruhr Museum in der Zeche Zollverein. Rem Koolhaas baute eine lange Rolltreppe an die ehemalige Kohlenwäsche an: Wie einst die Kohle, werden die Besucher hinaufbefördert, um dann im Innern in einem in leuchtendem Orange gehaltenen Treppenhaus wieder hinabzusteigen zu den Ausstellungsräumen, in denen zwischen den Maschinen und Trichtern ein äußerst gelungenes Heimatmuseum entstanden ist. Es hat 67 Millionen Euro gekostet, bezahlt von der EU, dem Land Nordrhein-Westfalen und der Stadt Essen. (Aber um Geschenke der öffentlichen Hand wird weit weniger Aufhebens gemacht; zudem ziehen alle Geschenke Betriebskosten nach sich, deren Aufbringung die Kommunen schwer belastet.)

Das Ruhr Museum dokumentiert nicht nur die Geschichte der Industrialisierung, sondern spielt originell mit den Klischees, die das Bild des Ruhrgebiets prägen. Es stellt Schimanskis Jacke ebenso in eine Vitrine wie eine Staublunge oder angeschlagenes Porzellan, das die Dienstboten der Kruppschen Villa Hügel behalten duften. Das Zollverein-Herbarium mit seinen gepressten Pflanzen macht die Artenvielfalt der Industriewälder deutlich, und Fossilien berichten von der Frühgeschichte der Region, in der so viel Fettkohle vorhanden war.

Mehrstimmiger Gesang

Aber die Ausstellung erzählt auch vom Leben vor der Industrialisierung. An der Handelsroute Hellweg entstanden schon im Mittelalter wichtige Städte, zum Beispiel Essen. Aus dem Kloster Essen-Werden stammt etwa das erste Zeugnis mehrstimmigen Gesangs: die Musica echiriadis. Die Handschrift wird derzeit in der Domschatzkammer ausgestellt. Es lohnt sich also, mit der Kulturlinie 107 wieder zurück ins Zentrum zu fahren und in der gesichtslosen Innenstadt das dritte Wunder von Essen aufzusuchen: den beeindruckenden Dom aus dem frühen Mittelalter, der in seiner Schatzkammer einzigartige Kunstwerke aus dem 10. und 11.Jahrhundert versammelt, darunter die älteste vollplastische Marienstatue aus dem Jahr 980, die „Goldene Madonna“.

Auf einen Blick

Essen (mitsamt dem Ruhrgebiet) ist neben Istanbul und dem ungarischen Pécs Europäische Kulturhauptstadt 2010.
Vielfältige Aktivitäten: www.ruhr2010.de

Museum Folkwang: Neu eröffnet, umgebaut vom Architekten David Chipperfield, galt das Haus einst als schönstes Museum der Welt: www.museum-folkwang.de

Ruhr Museum: Ehemalige Zeche Zollverein, umgebaut von Rem Kohlhaas, dokumentiert Industriegeschichte: www.ruhrmuseum.de

Domschatzkammer: Nicht umgebaut, enthält einzigartige Kunstwerke des 10. und 11.Jhdts.:www.domschatz-essen.dexx

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.02.2010)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.