Wiener Festwochen: Die Revolution hat sich erschöpft

Tschewengur
TschewengurThomas Aurin
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Am Freitag begannen die Wiener Festwochen mit einer mehr als fünfstündigen Inszenierung von Frank Castorf. Seine Version von Platonows Roman "Tschewengur" ist wirr und fad.

Die Handlung von Andrei Platonows Roman kann einfach erzählt werden: Einige Jahre nach der Oktoberrevolution 1917 ist Russlands Bürgerkrieg beinahe beendet, den Kommunismus in seinem Lauf hält offenbar nichts mehr auf. Zwei militante Mitläufer, Kopjonkin und Dvanov, machen sich auf in die Stadt Tschewengur in der Steppe, um dort zu erfahren, wie er sich auf die Gesellschaft ausgewirkt hat, auf die Bourgeoisie, die abgeschafft gehört, auf die Bauern, die ihre Arbeit einstellen, denn jetzt ist ja Klassenkampf, jetzt wird neu verteilt. Die Partei sorgt doch für alle. „Tschewengur“ ist ein Reise- und Bildungsroman. Kopjonkin nennt sein Pferd Sowjetmacht, als Traumbild hat er die ermordete Revolutionärin Rosa Luxemburg, deren Grab er sucht. Wie ein Don Quijote kämpft er sich mit seinem treuen Begleiter durch die neuen Verhältnisse. Blut muss fließen, die Revolution muss fressen.

Platonows Text spießt die frühe sowjetische Propaganda auf. Aus Sicht der Nomenklatura wurde sein Werk zu Recht weggesperrt. Er schrieb so abenteuerlich absurd, als ob eine frühe Ost-Version von Albert Camus ihre Visionen mit viel Wodka, Tabletten und im Fieberwahn zu Papier gebracht hätte. Stalin schrieb an den Rand eines der Manuskripte: „Dreckskerl“. Aus orthodoxer Sicht stimmt das sogar. Platonow war wirklich nichts heilig. Er war als Progressiver unbequem.

Ein fantastischer Stoff für tolle Theaterabende also. Aber was für eine erbärmliche, uninspirierte Show hat Frank Castorf, der über die Berliner Volksbühne Ost schon beinahe so lang herrscht wie einst Genosse Stalin über die UdSSR, aus dieser Vorlage gemacht? Seine Inszenierung für das Schauspiel Stuttgart vom vorigen Herbst, die diesen Freitag bei den Wiener Festwochen zu Gast war, enttäuschte mit ihrer postdramatischen Fadesse: „Tschewengur“ (Deutsch von Renate Reschke) ist keine „Wanderung mit offenem Herzen“, wie der Untertitel verspricht, sondern ein bunter Abend für eine geschlossene Gesellschaft des innersten Zirkels der noch lebenden Neigungsgruppe Castorf.


Innenwelt. Symptomatisch dafür ist das Bühnenbild, ein Zeichen für innere Emigration. Aleksandar Denić hat mit gewaltigem Aufwand eine drehbare Festung gebaut. In der einen Achse sieht man die mächtige Verkleidung einer alten sowjetischen Dampflok. Wie eine Kirchturmspitze sieht ihr Schlot aus, aus ihm ragen Kreuze, dringt beständig Rauch. Diese Lok kann auch mit ihren Scheinwerfern den Völkern Signale geben. Vorwärts! Auf der Rückseite dieser Achse aber drehen sich die Blätter einer Windmühle (Cervantes!), auf denen manchmal leicht bekleidete Damen turnen. Hoch oben auf der Mühle ein Porträt der Luxemburg. Unter dem doppelten Überbau sind die Mühen des UdSSR-Alltags realisiert – ein Straflager, eine Arbeiterbaracke, ein Klub (seine Neonschrift verheißt „Sowjetmacht“), ein Hof, ein Cola-Automat.

Im Offenen sind die zehn Schauspieler jedoch selten, sondern meist in den Innenräumen versammelt oder zentral in einem aufgebockten Pkw, wohl aus Sowjetzeiten, in dem sie sich körperlich näherkommen. Das Geschehen wird durch mobile Kamerateams auf zwei Video-Screens hoch oben auf dem Gesamtkunstwerk übertragen. Die Botschaft an das Publikum: Wir brauchen keine vierte Wand, wir sind uns selbst genug und schicken euch ins Kino.

Tatsächlich ist man phasenweise geneigt, länger als die Verrenkungen des Ensembles die in Schwarz-Weiß eingespielten Endlosschleifen historischer Doku-Clips zu betrachten, etwa das Stampfen einer Eisenbahn. Oder sich völlig der Musik zu widmen: Zitate von Schostakowitsch, die sich vor und nach der Pause zu einem skurrilen Säbeltanz samt Pferd auswachsen. Im zweiten Teil dominiert der Blues der Rolling Stones. Das ist hübsch anzuhören. Ansonsten versäumt man nicht mehr viel. Denn diese Inszenierung ist von arroganter Beliebigkeit. Meist unter Gebrüll, bei schlechter Akustik, werden Massen an Text wie im Akkord ausgestoßen. Wer spielt welche Rolle? Uninteressant. Castorf spielt.

Einmal, nach viel zu vielen Stunden, lässt er eine Schauspielerin sagen, sie sei es satt, für alte avantgardistische Regisseure zu arbeiten. Aber die Spitze ist hier nicht das Problem, sondern das Stumpfe. Es mutet spätpubertär an, wie frei von Ironie um Ironie gerungen wird. Auch die Fantasien dominanter Frauen in Netzstrümpfen, die bevorzugt ihre Beine spreizen, während die Männer Flüssigkeiten und Essensreste von sich geben, scheint kein Privileg würdeloser Greise, sondern schlicht schlecht verkleideter Sexismus zu sein.

Das Grundprinzip des Abends ist ohnehin Verschleierung. Eingangs gibt es Szenen mit einer (wohl vom Meister selbst gebastelten) Begründung, warum Platonow so gut sei (besser als Hemingway!). Dann darf stundenlang der Dichter fragmentarisch mit seinem Roman zu Wort kommen, aber er geht im Stakkato der Schauspieler unter. Es herrscht Beliebigkeit. Ein Baby wird in den Müll gekübelt, eine Küchenschabe saugt an einer offenen Wunde, ein Bauer isst Dreck, ein Fischer ersäuft sich in einer Wanne. Einmal dürfen alle Darsteller Hühner sein. Da wird gegackert. Der Unterschied zum übrigen Wortschwall ist marginal. Am Ende gibt es ein Filmchen, in dem die Revolutionäre durch ein Maisfeld stolpern und mit Unmengen an Kunstblut ihren Heldentod spielen. Fazit zu Revnaród und Revkóm: Lieber tot als rot.

Der Autor, Sein Werk

Andrei P. Platonow,geboren 1899 bei Woronesch, war einer der ersten Sowjet- Schriftsteller nach der Oktoberrevolution 1917. Der Sohn eines Landarbeiters wurde Ingenieur, wollte vor allem aber schreiben, seine Werke blieben jedoch zu Lebzeiten verboten, obwohl er Kommunist war.

Romane. In Platonows „Tschewengur“ wird u. a. Kollektivierung satirisch behandelt. Diese Dystopie, so wie „Die Baugrube“ wohl zwischen 1926 und 1930 entstanden, erschien erst nach seinem Tod. Sein Sohn war in den Dreißigerjahren mit 15 wegen „Terrorismus und Spionage“ verhaftet und in ein Arbeitslager deportiert worden, wo er an Tuberkulose erkrankte. Als er zurückgebracht wurde, steckte sich Platonow bei dessen Pflege an. Er starb 1951 in Moskau.

Frank Castorf, *1951 in Ostberlin, ist bis 2017 Intendant der Volksbühne.

Termine: 15. und 16. Mai, 18.30 Uhr, Halle E im Museumsquartier.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.05.2016)

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