Kinopilger: Der Weg ist das Ziel

Kinopilger Ziel
Kinopilger Ziel(c) Lunafilm
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Gerade der Jakobsweg wird zuletzt im Kino gern bewandert, wie derzeit im Drama "Dein Weg" von Emilio Estevez. Anmerkungen zum aktuellen Trend der filmischen Wallfahrt.

Der Weg ist das Ziel. Das ist der Vorteil und zugleich ein wenig der Fluch des Pilgerfilms: Er ist von vornherein vollständig selbsterklärend. Die Sinnsuche durch eine Reise ist ein ideales Kinosujet: Als Road Movie ist die mobilisierte moderne Ausformung der Idee ein eigenes Genre geworden. Die religiöse Seite der Pilgerfahrt spielte da zeitgemäß kaum mehr eine Rolle, aber die spirituelle: Die vor allem amerikanisch geprägte Suche nach Freiheit und Identität im Road Movie schließt an das althergebrachte Pilgermotiv an. Nicht zufällig war Kris Kristoffersons Ballade „The Pilgrim: Chapter 33“ ein Schlüssellied auf den Pop-Soundtracks des Genres: „Searchin' for a shrine he's never found...“ Auch Charlie Chaplins ewig herumziehender Tramp darf als Road-Movie-Vorfahr gelten: Schon 1923 drehte Chaplin einen Film namens „The Pilgrim“. Darin war Tramp Charlie bezeichnenderweise gar kein Pilger: Er wurde nur wegen einer Verwechslung für einen Pastor gehalten.


Jakobsweg bevorzugt. Nun hat der traditionelle Pilgergang ein Kino-Comeback in säkularen Zeiten: Die Lourdes-Prozessionen, schon 1897 in frühen Lumière-Filmdokumenten eingefangen, tauchten etwa 2009 wieder auf, im wenig schmeichelhaften Wallfahrtsbild des Spielfilms „Lourdes“ der Österreicherin Jessica Hausner. Der französisch-marokkanische Regisseur Ismaël Ferroukhi schickte 2004 Vater und Sohn auf „Die große Reise“ nach Mekka, um Tradition und Moderne auszusöhnen. Aber kurioserweise konzentriert sich die Kinopilgerfahrt der vergangenen Jahre auf den Jakobsweg nach Santiago de Compostela: Der war filmhistorisch mit Luis Buñuels amüsierter Häresien-Rundreise „Die Milchstraße“ (1969) lange subversiv besetzt.

Bis Regisseurin Coline Serreaus Erfolgsfilm „Saint Jacques...Pilgern auf Französisch“ 2004 drei zerstrittene Geschwister aus Erbschaftsgründen nach Santiago schickte – und sie dabei Eintracht finden ließ. Nicht unähnlich verlief 2006 die Reise der österreichischen „Brüder“ Wolfgang Böck, Erwin Steinhauer und Andreas Vitásek in „Auf dem Jakobsweg“. Der camino wurde seither u.a. in einer spanischen Farce („Road to Santiago“, 2009) und einem deutschen TV-Melodram („Ich trag dich bis ans Ende der Welt“, 2010) beschritten, sogar in einer portugiesischen Kunstfilmparodie: „Finisterrae“ (2010) erleben zwei müde Gespenster (im Leintuch!) auf dem Pilgerpfad absurde Abenteuer zwischen absichtlichem Leerlauf. Ernsthafter, doch nicht humorlos geht es gerade im interessantesten Film dieser Welle zu: „Dein Weg“ (2010) von Emilio Estevez, dem eigentlich eher als Schauspieler bekannten Bruder von Charlie Sheen.


Keine billige Katharsis. Estevez' schmales Regiewerk – gut alle fünf Jahre ein Film seit dem Debüt „Wisdom“ (1985) – ist eine Ausnahme im (US-)Gegenwartskino: geprägt von herzhaftem Engagement und einer Faszination für lebendige Widersprüche. So heißt „Dein Weg“ im Original lapidar „The Way“ und folgt zwar genreüblichen Bahnen, schenkt sich aber keine billige Katharsis, sondern will die Klischees auch immer wieder brechen: Weil im Pilgerkino der Weg das Ziel ist, drohen einerseits Vorhersehbarkeit, andererseits sentimentaler Exzess bei Übertreibung der vorgegebenen Erweckungserlebnisse. So ist der bis dato beste Pilgerfilm auch der exzentrischste: Für „A Canterbury Tale“ ließ sich 1944 das geniale Duo Emeric Pressburger und Michael Powell von Geoffrey Chaucers „Canterbury Tales“ inspirieren. Doch schon der unglaubliche erste Schnitt holt dessen Pilgerwelt in die Gegenwart: vom Falken, den ein mittelalterlicher Wallfahrer aufsteigen lässt, zum Spitfire-Flugzeug im Weltkrieg. Die lyrische, eigensinnige Neuinterpretation von Chaucers Pilgerthema ist virtuos mit dem Hintergrund der Entstehungszeit verschränkt. So meisterhaft ist Estevez' sympathisch schlenkernder Film nicht, aber er sucht ebenfalls ein zeitgenössisches Verständnis der Pilgeridee.

Regisseur und Hauptfigur nehmen dafür eine amerikanische Außenseiter-Perspektive ein: Estevez-Papa Martin Sheen, selbst erklärter „glühender Katholik“, ist ideal besetzt als störrischer Individualist, der aus Privatgründen in die Pilgergemeinschaft kommt. Sheen spielt Augenarzt Tom, den ein Anruf auf dem Golfplatz stört: Sein Sohn ist umgekommen, auf dem Jakobsweg. Als er die Überreste in Europa abholt, entschließt sich Tom spontan, den Pilgergang für seinen Sohn zu machen – aber auch für sich: um dem entfremdeten Kind posthum näherzukommen.


Pilgertourismus. In einer Rückblende streiten die zwei: Der aufmüpfige Sohn (Estevez selbst) solle nicht das Leben gering schätzen, das er gewählt habe, sagt Tom. Die Replik: „Man wählt sein Leben nicht, man lebt es.“ Der Weg ist das Ziel: Die Lektion muss in Tom erst einsickern, auf Pilgerreise mit einem kiffenden Holländer, der die Wanderung zum Abnehmen macht, einer mit Zynismus gewappneten Kanadierin (Kara Deborah Unger) und einem irischen Reiseliteraten. Das verläuft nicht klischeefrei, aber thematisiert verschiedenste Aspekte bis hin zum kommerzialisierten Pilgertourismus: Der Ire, wegen Schreibblockade unterwegs, folgt widerwillig den Spuren von Jakobsweg-Autor Paulo Coelho.

Das Wesen des „wahren Pilgerns“ wird buchstäblich zur Debatte gestellt – bis Tom der Kragen platzt. Zuvor hat er einen pilgernden Priester belächelt: „Sie glauben an Wunder?“ Die Retourkutsche: „Das ist irgendwie mein Job.“ Manchmal geht „Dein Weg“ zu weit, etwa bei Toms Visionen vom toten Sohn, der ihm auch noch bedeutende Blicke zuwirft. Aber letztlich findet Estevez die richtige Balance: Im Beharren auf der Trennung von religiöser und spiritueller Dimension und der Anerkennung weltlicher Beweggründe erzählt „Dein Weg“ von der aktuellen Faszination für Pilgerreisen. Die letzte Vision seines Kinds hat Tom beim eindrucksvollen Schwenken des Riesenweihrauchkessels in der Kathedrale von Santiago. Dann macht er sich auf den unvermeidlichen Abschiedsgang zum Meer, um die verbleibende Asche des Sohns auszustreuen – doch starker Gegenwind bläst sie Tom gleich wieder ins Gesicht. Gerade in der mangelnden Erhabenheit der Geste liegt ihre wahre Größe: Der Weg ist das Ziel.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.07.2012)

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