Meirelles: "Bei Special Effects schlafe ich sofort ein!"

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Fernando Meirelles über seinen Episodenfilm „360“, der am Dienstag im Volkstheater und ab Freitag in den Kinos zu sehen ist. Hollywood findet der Brasilianer uninteressant.

Die Presse:Ihr neuer Film "360" mit Stars wie Rachel Weisz, Anthony Hopkins, Jude Law bewegt sich quasi rund um den Erdball. Es geht um Liebe, Betrug, Kriminalität. Die Geschichten ereignen sich in Paris, Rio de Janeiro, Denver, London, Bratislava und Wien. Wo hat es Ihnen beim Drehen am besten gefallen?

Fernando Meirelles: Ich war sehr beeindruckt von Wien. Ich war vor 20 oder 25 Jahren in Österreich. Ich war völlig überrascht: Wien ist wunderbar, aber ohne den Stress einer großen Stadt. Österreich ist so ein reiches Land. Man fühlt sich wie in einer Idylle, wie in einer rosaroten Blase.

Schnitzlers "Reigen" war für den Drehbuch-Autor Peter Morgan ("Die Queen") der Ausgangspunkt für "360", mit Schnitzler hat der Film aber eigentlich gar nichts zu tun.

Wir haben den „Reigen" nicht stark verwendet. Peter Morgan wurde vom ORF eingeladen, etwas mit Schnitzler zu machen. Er las alle seine Stücke und entschied sich für eine freie Adaption des „Reigen". Er hat aber dann keine der Episoden benutzt, sondern nur die Struktur des „Reigen", den Kreis, übernommen. Es ist aber kein intakter Kreis, sondern ein gebrochener. Was mich an dem Film interessiert hat, war, dass alle diese Figuren gute Menschen sein wollen, gute Bürger, gute Ehemänner. Aber etwas funkt ihnen dabei ständig dazwischen. Ihr rationaler Anteil und ihre Leidenschaften kämpfen miteinander. Ich kenne das von mir. Ich habe eine Menge Dummheiten gemacht, die ich später bereut habe.

Zum Beispiel?

Da möchte ich jetzt lieber nicht ins Detail gehen. In jedem Leben gibt es irrationale Dinge. Man schreit jemanden an und macht ihn fertig und fragt sich nachher: Was war das jetzt? Der Ehemann im Film z. B., Jude Law, er möchte seiner Frau ein liebender und solidarischer Partner sein, statt dessen sucht er sich im Internet eine Prostituierte. Der Vergewaltiger, der aus dem Gefängnis kommt, will kein Krimineller mehr sein, aber es ist etwas in ihm, das ihn in Versuchung führt. Letztlich sind wir primitive Wesen, in vielem gleichen wir den Tieren.

Am Ende des Films fahren ein russischer Leibwächter und ein hübsches slowakisches Mädchen mit einem Mercedes davon. Der Chef des russischen Leibwächters wurde erschossen. Die beiden sind frei. Bleiben sie zusammen?

Ich glaube nicht. Sie sind zu verschieden. Sie versuchen nur einfach etwas zu tun, was ihrem Leben eine Wende gibt. In „360" geht es um diese kurzen Momente, die alles ändern, wenn Du am Scheideweg stehst. Bevor das Mädchen Mirka vor dem Zuhälter und Fotografen ihr Hemd auszieht, könnte sie noch immer weggehen, mit dem Ausziehen des Shirts wird sie zur Prostituierten.

Hollywood wird viel kritisiert. Die Filmindustrie bietet nur mehr Blockbuster, Fantasy und Comedy. Sie orientiert sich am Mainstream und am Profit. Wie sehen Sie Hollywood?

Ich bin kein Fan dieser Blockbuster. Superhelden interessieren mich nicht. Ich bin ja auch nicht elf Jahre alt. Wenn ich Special Effects sehe, schlafe ich sofort ein. Mir wurden Arbeiten in Hollywood angeboten, aber ich habe nein gesagt. Das derzeitige Studiosystem ist uninteressant. Du drehst und musst, was du gedreht hast, jeden Tag den Marketingleuten vorlegen und sie streichen die Hälfte. Beim Schneiden der Filme schauen dir acht Kerle über die Schulter, mischen sich ein und verdienen eine Menge Geld damit. Ich bin zu alt für solche Sachen. Ich arbeite lieber in einer bescheideneren Dimension und bin unabhängig.

Wie hoch war das Budget von "360"?

15 Mio. Euro. Es war die beste Erfahrung, die ich je gemacht habe. Wir hatten zehn oder zwölf verschiedene Quellen. Es gab keinen großen Investor. Wenn ein Investor 50 Prozent des Films zahlt, will er mitreden, z. B. bei der Besetzung. Es war wunderbar ohne Druck zu arbeiten, eine tolle Erfahrung.

Ihr Film "City of God" (2002) über die Favelas, die Elendsviertel von Rio de Janeiro, war ziemlich erfolgreich. Wussten Sie das von vornherein?

Bei "City of God" gab es keinen Financier. Ich begann mit der Vorbereitung, in der Hoffnung, dass es Geld gibt. Als keines kam, finanzierte ich den Film selbst. Das war blöd. Als der Film fertig war, wollte ich mein Geld zurück. Ich fand einen französischen Verleiher, er kaufte den Film, Miramax erwarb die Rechte für Amerika. Der Film machte Profit, aber ich sah nichts davon.

Filme drehen ist wie im Casino spielen.

Es war mir gleich. Ich war so begeistert von "City of God". Als kein Geld kam, sagte der Produzent, wir hören auf oder verschieben das Projekt. Ich sagte, kommt nicht in Frage, wir proben seit Monaten!

Wenn Sie nochmal auf die Welt kommen, werden Sie wieder Filmregisseur?

Ich glaube schon. Es ist so ein faszinierender Job. Man trifft so nette Leute, man lernt so viele verschiedene Aspekte des Lebens kennen. Wenn ich mich z. B. für Afrika interessiere, kann ich einen Film über Afrika erfinden. Ich fühle mich in das Leben der Menschen ein. Filmemachen ist nie langweilig.

Drehen Sie als nächstes einen Film in Afrika?

Nein. In meinem nächsten Film geht es um den griechischen Reeder und Milliardär Aristoteles Onassis, der John F. Kennedys Witwe, Jackie, heiratete. Der britische Journalist Peter Adams hat Onassis, der 1975 starb, acht Jahre lang interviewt und ein Buch mit dem Titel „Nemesis" geschrieben. Der Film wird ganz schön schockierend werden mit Skandalen und Hass. Die mächtigste Familie kämpft mit allen Mitteln gegen den reichsten Mann der Welt. Wir zeigen die elegante Welt der fünfziger und sechziger Jahre mit Jackie, der Operndiva Maria Callas, der Geliebten von Onassis, Sex and Crime.

Wird es in der Filmtechnology noch ähnliche Umwälzungen wie in den letzten Jahren geben?

Ich glaube schon. Filmen ist durch die Digitaltechnologie viel einfacher geworden, die Kameras sind leichter. Leider sind die Linsen noch immer sehr schwer. Ich weiß nicht, ob dieses Problem jemals gelöst werden wird.

Was machen Sie, wenn Sie nicht arbeiten?

Ich habe nicht viel Freizeit. Meine Produktionsfirma in Brasilien, die für Werbung, TV arbeitete, beschäftigt mich stark. Einmal im Monat versuche ich eine Woche auf meiner Farm im Norden von Sao Paulo zu sein. Ich bin Farmer, ich pflanze Kaffee, Zuckerrohr, Bäume. Ich habe dort eine Lebenswelt geschaffen, die es vor zehn Jahren nicht gab. Ich beschäftige mich viel mit Umweltproblemen, Umweltschutz.

Brasilien hatte vor Jahren eine schwere Wirtschaftskrise. Jetzt scheint es steil bergauf zu gehen.

Die Krise war 1999. Jetzt boomt das Land. Früher waren 30 Prozent der Bevölkerung arm, jetzt sind es sechs. Alle armen Leute gehören nun zur Mittelklasse.

Wie ist das gelungen?

Brasilien war immer ein reiches Land. Die Preise für Rohstoffe sind stark gestiegen. Brasilien ist einer der wichtigsten Rohstoffproduzenten der Welt. Ich glaube, es ist der größte oder zweitgrößte Nahrungsmittelproduzent. Wir füttern die Welt. Wir haben nahezu Vollbeschäftigung, fünf Prozent Arbeitslose.

Ein Wunder?

Mein ganzes Leben, ich bin 56 Jahre alt, habe ich die Zeitung aufgeschlagen und gelesen, in Europa ist alles wunderbar, in Amerika geht es abwärts, Brasilien war immer in der Krise. Jetzt lese ich nur gute Nachrichten über meine Heimat, alles wird besser für die Menschen, auch die Gesundheitsversorgung. Natürlich, vieles ist noch zu tun. Aber früher haben sich die G7 getroffen und beschlossen, wo es lang geht. Heute geht nichts mehr ohne die sogenannten Schwellenländer. Wenn sich Deutschland oder Japan treffen, können sie nichts entscheiden ohne Russland, Indien, Brasilien oder Südafrika. Das ist ein Riesenwandel.

(Die Presse am Dienstag, 21.08.2012)

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