Miguel Gomes: Vorher der Kater, dann erst das Trinken

Miguel Gomes Vorher Kater
Miguel Gomes Vorher Kater(c) Stadtkino
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Nächste Woche läuft Miguel Gomes' gefeierter Film "Tabu" an: Ein Gespräch über die Macht des Kinos. Von der Erektion eines Esels und dem gewalttätigen Tod eines Fisches namens Indiana Jones.

Ihr Film „Tabu“ ist zweigeteilt: Der erste Teil spielt im grauen Portugal der Gegenwart, dann folgt eine ungewöhnliche Rückblende zur Liebesgeschichte einer Hauptfigur in den Zeiten der Kolonialherrschaft in Afrika. Sie unterlaufen so erzählerische Konventionen.

Miguel Gomes: Die Zweiteilung des Films ist, als hätte man zuerst den Kater – und erst danach kommt die Feier, bei der alle trinken! Aber weil man den Kater schon durchlebt hat, ändert sich das Verhältnis dazu. Im Prinzip geht es um Figuren, die sich nach ihrer Jugend sehnen, nach entscheidenden Erlebnissen. Nach elementaren Erfahrungen, von denen das Kino früher erzählte. Heute ist das fast verschwunden, alles ist mit Psychologie überlagert: Warum will der jetzt so viele Leute umbringen? Dem Zuseher wird kein Raum für die Erfahrung einfacher und poetischer Dinge gelassen, sondern etwas aufgezwungen. Wenn von der Sicht des Filmemachers geredet wird – ehrlich gesagt, die ist mir völlig wurscht! Mich interessiert die Sicht des Zusehers: nicht des Publikums, das ist eine abstrakte Idee, sondern des individuellen Zusehers. Ich will ihm die Möglichkeit geben, eine Beziehung zum Film aufzubauen, ohne ihn in die Pflicht zu nehmen.

Was ist Ihre Methode, um das zu erreichen?

Mehrere Filme gleichzeitig zu machen! In „Tabu“ steckt ein sehr ironischer Film, aber es ist auch ein tragisches Melodram. Und wenn man es aus anderer Perspektive sieht, ist es auch komisch. So entsteht Freiraum. Kino funktioniert wie eine Batterie: Es gibt den positiven und den negativen Pol, und der Zuseher sorgt für die Ladung dazwischen. Das kann in meinem Kino nur entstehen, wenn es widersprüchliche Dinge gibt. Der Zuseher hat die Möglichkeit, sich der einen oder anderen Seite zu nähern. Nicht diese Einteilungen: „Das sind die Bösen und das die Guten!“ Bei mir sind alle die Bösen – und die Guten!

Der zweite Teil hat Bilder mit Musik, Geräuschen und Erzählstimme, aber keine Dialoge. Wie Erinnerungen, bei denen man sich kaum Sätze merkt, sondern Bilder und Gefühle.

Das war von Anfang an der Plan. Es sind Erinnerungen eines alten Mannes: seine Stimme, Songs und die Geräusche der Natur. Ich wollte dieses Geistergefühl ausnutzen: dass etwas ganz nah wirkt, weil man es sehen kann und zugleich sehr fern ist – so wie man sagt, dass man einige Minuten noch immer das Licht der Sonne sehen kann, wenn sie bereits zerstört ist.

Wie hat das Drehbuch dafür ausgesehen?

Für den zweiten Teil hatten wir keines! Beim Filmemachen arbeitet man mit zwei Arten von Leuten: Die einen wollen nichts wissen, das ist gut. Die anderen wollen ständig etwas wissen, die muss man anlügen, aber nicht in böser Absicht! In Sitzungen werde ich gefragt: „Welchen Look wird der Film haben? Was ist Ihr Konzept?“ Diese Dinge sind mir fern. Tatsächlich muss ich verbergen, dass ich kein Konzept habe, vom Look ganz zu schweigen! Meine Arbeit fußt auf etwas, das nicht rationalen Ursprungs ist, eher organisch: ein Verlangen, Menschen in bestimmte Situationen zu bringen. Leute, die Fragen stellen, verstehen das nicht: „Warum ist Ihr Film in Schwarz-Weiß? Der Dschungel wäre in Farbe viel attraktiver!“ Schwarz-Weiß ist vielleicht sogar ein Konzept, aber darum geht's mir nicht: Es geht um ein Afrika, das eine Erinnerung ist, eine falsche Erinnerung. Darum ist das Kino so mächtig: Es kann diese falschen Erinnerungen erschaffen! Wie das Bild von Kolonial-Afrika, das wir aus dem Kino kennen.

Ihr Werk ist überhaupt stark cinephil. Was sind Ihre wichtigsten Kinoerinnerungen?

Im Ferienlager sah ich mit sechs Jahren Disneys „Dumbo“ und war zutiefst bewegt. Etwas ältere Kinder machten sich über den Film lustig, ich stritt mit ihnen und unterlag natürlich! Später Spielbergs „Raiders of the Lost Ark“ und Godards „Nouvelle Vague“. Wichtig war in der Jugend Portugals öffentlich-rechtliches TV. Wie eine Kinemathek, heute gibt es das nicht mehr: Retrospektiven von Murnau, Hitchcock, Manoel de Oliveira. Irgendwann begriff ich, dass ich das Kino liebte. Es ist mir wichtig, auch wenn es eine Seuche ist: Ständig nur Kino ist nicht gut für dich.

Wie ging es Ihnen dann auf der Filmschule?

Ich war ein schlechter Wirtschaftsstudent, als ich umstieg, meinten meine Eltern: „Wenn du Kino so magst, wird vielleicht was draus. Das oder Arbeitslosigkeit – was haben wir zu verlieren?“ Ich war ein schlechter Schüler, dann ein sehr schlechter Filmstudent! Die Filmschule in Lissabon war auch sehr schlecht. Obwohl die erste Lektion war: „Nie eigenes Geld in einen Film stecken!“ Das ist weise, das versuche ich mittlerweile. Doch schon als Zweites hieß es: „Nie Tiere oder Kinder verwenden.“ Und dem kann ich gar nicht zustimmen.

Ihre Tierbilder in „Tabu“ sind großartig.

Ich mag Tiere in Filmen, dabei habe ich gar keine Haustiere. Ich hatte einen kleinen roten Fisch namens Indiana Jones, der auf gewalttätige Art umkam – an das Trauma will ich nicht rühren! Meine Lehrer warnten: „Tiere oder Kinder kann man nicht kontrollieren.“ Als ich Filme machte, lernte ich schnell: Das Beste, was man am Set tun kann, ist die Kontrolle zu verlieren! Natürlich stellt man am Ende des Prozesses die Kontrolle wieder her. Aber Unkontrollierbares ist gut für mich, es kommt ein Element der Wirklichkeit in meine Ideenwelt. Tiere bereichern den Film.

Wie der Esel mit einer riesigen Erektion im Hintergrund einer Abschiedsszene?

Sie haben den Esel sehr genau beobachtet. Ich hoffe, es merken nicht alle! Ja, das kann man nicht kontrollieren. Die Tiere sorgen da für eine tiefere Verbindung: Nach dem Abschied mit Esel geht es mit einem Krokodil ins Nachbarhaus, wo die Frau, die sich verabschiedet hat, erstmals Ihren Geliebten küssen und mit ihm Sex haben wird. Ein kosmischer Zusammenhang – kein Wunder, dass der Esel so erregt war!

Pop ist Ihnen auch wichtig: Sie verwenden Versionen zweier Phil-Spector-Songs.

„Be, My Baby“ von Les Surfs und „Baby, I Love You“ in der Ramones-Version, die ich liebe. Die ist zwar aus den 1980ern, aber die Zeiten in „Tabu“ sind so durcheinander, also was soll's! Eigentlich versuche ich Filme zu machen, die solche Gefühle erzeugen, wie sie großartige Popsongs in mir auslösen.

Das scheint hier aufgegangen zu sein. „Tabu“ wird jedenfalls allerorten gefeiert.

Vielleicht ist es mein Disney-Film geworden. Mein „Dumbo“!

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.11.2012)

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