"Nymph()maniac": Die Wahrheit über Lolita

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Lars von Trier ist ein Frauenkenner. "Nymphomaniac", der erste Teil, erweist sich trotz Kürzung als Meisterwerk. Dies ist ein Filmroman ohne ideologischen Firlefanz, voller poetischer Assoziationen und mit großartigen Schauspielern.

Porno oder nicht Porno? Egal. Der erste Teil von Lars von Triers „Nymph()maniac“ sorgt seit Monaten für heiße Debatten, läuft nun in einer gekürzten Fassung im Kino – und macht Lust auf mehr. Lust in einem durchaus vielschichtigen Sinne. Ein alter Herr findet eine jüngere Frau zusammengeschlagen auf der Straße. Sie erzählt ihm ihre „sexuelle Lebensgeschichte“, wie es im Aviso so dürr wie neugierig machend heißt. Von Trier entwirft ein atemberaubendes Panorama von Assoziationen. Zu Beginn tropft Schneeregen, dazu erklingt Rammstein: „Wenn du weinst, geht es mir gut, die Hand deiner Angst füttert mein Blut.“

Doch hier wird keine Opfergeschichte erzählt. Gerade haben zwei herzige kleine Mädchen noch im Badezimmer ein Schwimmbad angelegt und eine Überschwemmung angerichtet, schon spielen sie als 15-Jährige ein Wettspiel: Wer mehr Herren in die Zugtoilette abschleppt, bekommt als Preis ein Sackerl Schokolade. Dafür kann man schon allerlei Grauslichkeiten auf sich nehmen. Besonders widerspenstig ist ein Mann mittleren Alters, der von einer Geschäftsreise heimkehrt, um seiner Frau, die gerade den Eisprung hat, das ersehnte Kind zu verschaffen. Das Mädchen Joe zieht ihm die Hose herunter; ob es da mit dem ehelichen Beischlaf heute noch etwas wird?

Hinreißend verführerisch: Stacy Martin

Von Trier begnügt sich nicht damit, eine saftige Lolita-Geschichte zu erzählen. Immer wieder wird zwischen der jungen Joe (bezaubernd: Stacy Martin) und der geschundenen älteren Joe (großartig: Charlotte Gainsbourg) hin und her geblendet. Der alte Herr (wunderbar und von fern her von Trier ähnlich sehend: Stellan Skarsgård) versucht den Katzenjammer der Frau, die mit blutigen Krusten im Gesicht und mit einem Männerpyjama in seinem Bett liegt, zu mildern, sie zu trösten. Er erzählt ihr vom Fliegenfischen, von der Nymphe, auch ein Insektenjungtier, von Edgar Allen Poes Alkoholismus, seinen Wahnvorstellungen, die er in grausige Gestalten goss, die seinen Ruhm begründeten, von der Harmonielehre, von Bach – und von sich selbst: Seligman heißt der Alte, er ist Jude, in dieser Figur spielt von Triers Biografie eine Rolle. Am Totenbett gestand ihm seine Mutter, dass sein Vater kein Jude, sondern Deutscher war, ein Schock für den Sohn.

Doch dieser Seligman ist mehr als eine Sehnsuchtsfigur des Regisseurs. Der alte Herr will Joe, dieser Frau, die sich genommen hat, was häufiger Männer tun, ein bisschen Heil wieder geben – mit herrlich schlichten Sätzen wie: „Man kann kein Omelette machen, ohne Eier zu zerschlagen.“ In poetischen Bildern und mit vielen Ausflügen in die Welt der Symbole wird hier vom Selbstversuch eines kecken Mädchens erzählt: Nach den Abenteuern im Zug verliebt sich Joe ausgerechnet in einen Mann, den sie zunächst zurückgewiesen hat und der ihr Chef ist. Nachdem dieser entschwunden ist, vernascht sie sieben Männer pro Nacht, die einander alsbald in die Quere kommen, und schließlich sitzt eine weinende Gattin (Uma Thurman) mit drei Söhnen auf Joes Bett.

Jetzt ist das junge Mädchen überfordert, gerade wollte sie den Ehemann loswerden, der nächste Lover steht mit Blumenstrauß vor der Tür. Mit einem Medea-Schrei verlässt die erboste Frau Joes Wohnung. Doch in diesem Drama steckt mindestens ebenso viel griechische Tragödie wie Komödie à la Feydeau. Von Trier blickte tief in die weibliche Seele – auf den Spuren von Ingmar Bergman und doch auf eine äußerst moderne Weise, ideologiefrei. Powerfrau, Luder, Schlampe, all die Bilder, die der Zeitgeist von Frauen malt, kümmern ihn nicht. Er verzichtet auf Dämonisieren, Moralisieren oder Kommentieren. Wen die expliziten Sexszenen nicht stören, der wird diesen genialen Film genießen, Frauen wie Männer. Der ganze Kinokommerz – Blockbuster, Monster, Hollywood-Helden und deutsche Komödien – wird nach dieser bildermächtigen Therapiestunde, in der man oft vermisstes Substanzielles geboten kommt, wieder erträglicher sein.

Vor allem: Eine überreiche Geschichte

Auch dramaturgisch ist der Film interessant: So gemächlich er erscheint, in Wahrheit parodiert er das Pornogenre, wo es immer nach kurzer, dünner Handlung zur Sache geht. Von Trier zeigt „alles“, das Drumherum ist aber psychologisch wie kulturgeschichtlich so reichhaltig und fügt sich so schön zu den „Akten“, dass keine Peinlichkeit aufkommt. Auch der voyeuristische Effekt hält sich in Grenzen. Die Kamera (wie bei „Melancholia“: Manuel Alberto Claro) hält stets Distanz, und doch berührt „Nymph()maniac“ stark. Souverän steuert von Trier sein Schiff durch alle Klischeeklippen. Das mag auch damit zu tun haben, dass der Däne die Pornobranche gut kennt. Seine Produktionsfirma Zentropa drehte höchst erfolgreiche Pornofilme (HeartCore statt Hardcore) und gab ein Pussy-Power-Manifest mit Richtlinien für Pornos heraus, in dem frauenfeindliche Praktiken ausgeschlossen werden.

Geschichten sexueller Ausschweifung wurden meist von Männern erzählt, „Lady Chatterley“, die „Mutzenbacher“, „Das Tagebuch einer Kammerjungfer“ (verfilmt von Luis Buñuel) und eben auch „Lolita“. Dann kamen die großen weiblichen Versionen – in der beträchtlichen Bandbreite von „Geschichte der O“ über Elfriede Jelinek („Lust“) bis „Feuchtgebiete“, „Schoßgebete“ oder „Shades of Grey“. Von Trier hat jetzt alles, was Liebe, Sex, Porno hergeben, kunstvoll zu einem „Filmroman“ zusammengefügt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.02.2014)

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