Diagonale: Weltkino und Mülltonnen-Meisterwerk

Eröffnung mit Sinnkrise: Das zehnte österreichische Filmfest in Graz begann am Montag mit Sabine Derflingers "42plus".

Die Vielfalt des heimischen Films wird zur Diagonale gern beschworen, doch heuer zeigt schon ein Blick ins Programm einige Internationalität – der Titel von Lisl Pongers Imago Mundi scheint bezeichnend. So beweist der Austro-Dokumentarfilm abermals Mobilität (und einen Hang zum englischen Titel), wenn er sich von New York (Mirjam Ungers Emigrantinnen-Dokument Vienna's Lost Daughters) nach Polen (Andreas Horvaths Kieslowski-Revision Views of a Retired Night Porter) bewegt, dazwischen in einer Koproduktion Slavoj iek, den spuckenden Kulturphilosophen-Star, ausgiebig über das Kino schwadronieren lässt (The Pervert's Guide to Cinema von Sophie Fiennes). Bis ins sprichwörtliche chinesische Dorf kommt man (in der feinen kleinen Studie Jeder siebte Mensch von Elke Groen und Ina Ivanceanu) – und da sind die großteils fernöstlichen, weltweit auf Festivals gefeierten Spielfilm-Koproduktionen des „New-Crowned-Hope“-Projekts nicht mehr fern.

Dennoch gilt es, die Kirche im Dorf zu lassen, und zwar im steirischen: „Die zehnte in Graz!“ heißt es überall, und auch Intendantin Birgit Flos sprach zur Eröffnung zu Recht vom „optimalen“ Standort. Vom Kulturkampf, der tobte, als Staatssekretär Franz Morak das Austro-Filmfest vereinnahmen wollte, war nicht mehr die Rede, auch nicht von der vorjährigen Förderungsfehde zwischen Kunst- und Kommerzproduktion. Flos verlangte nur ein allgemeines Bekenntnis zur stärkeren finanziellen Unterstützung – die Teilnahme der neuen Bildungsministerin Claudia Schmied an einer Podiumsdebatte (am 24.3.) wird mit Spannung erwartet.

Unverzichtbar: Programmkino „KIZ“

Eine akklamierte Unterstützungserklärung gab es jedenfalls für das von einem Bauprojekt bedrohte Grazer Programmkino KIZ, ein unverzichtbares Urgestein der Diagonale, gerade für die historischen Programme wie den Tribut an einen großen Internationalen aus Österreich, den Fotografen und Kameramann Wolf Suschitzky.

Weniger weltbürgerlich (trotz hauptsächlich italienischen Schauplatzes) war der Eröffnungsfilm: Sabine Derflingers 42plus erzählt von einer Karrierefrau (Claudia Michelsen), die sich im Urlaub ihrer Sinnkrise stellt – und den Gatten (Ulrich Tukur) mit dem Liebhaber konfrontiert. Man spürt, dass Derflinger von echten Gefühlen erzählen und weg von den Konventionen des TV-Spiels will, davon erzählt schon der versuchte unverkrampfte Umgang mit Sex. Aber die Ernsthaftigkeit ist sonst oft tödlich tönern, gerade im Dialog (Co-Autor: Däne Mogens Rukov, Das Fest), wo „impulsiv“ diskutiert wird, ob die Liebe ein Wasserhahn ist oder ein Fluss. Der Witz erstarrt dazwischen (als Kontrastpaar mehr amüsiert als amüsant: Petra Morzé und Tobias Moretti), im stetigen Plätschern der Krisen und Konflikte fehlen starke Bilder.

Wahrlich großes Schmerzenskino und echt kernigen Witz wird dafür eine andere Diagonale-Weltpremiere bieten: Peter Kerns No-Budget-Meisterwerk Die toten Körper der Lebenden lässt in einem Wien, das so traurig ist, dass sogar der Zirkus Roncalli geschlossen hat, die leidenden jungen Helden von Jean Genets Klassiker Un chant d'amour auf eine Altstar-Diva mit eigenwilligem Realitätsbegriff treffen. Dann fließt Kunstblut, aber es geht um Herzblut: Kern selbst singt zuletzt mit Oscar Wilde „Each Man Kills the Thing He Loves“. Und zwar buchstäblich aus der Mülltonne: Trash, so tief empfunden, wie es viele teurere Spielfilme nie erahnen lassen. Nicht nur in Graz.

Inline Flex[Faktbox] DIAGONALE: Was noch kommt("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.03.2007)

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