„Gone Girl“: Das perfekte Opfer in der perfekten Kleinstadt

GONE GIRL, from left: Ben Affleck, Rosamund Pike, 2014. ph: Merrick Morton/TM & copyright ©20th
GONE GIRL, from left: Ben Affleck, Rosamund Pike, 2014. ph: Merrick Morton/TM & copyright ©20th(c) 20th Cenrtry Fox via Everett Col
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In „Gone Girl“ mit Ben Affleck und Rosamunde Pike entsteht Spannung aus der Diskrepanz zwischen dem, was der Zuschauer sieht, und dem, was er weiß: eine raffinierte Erzählung, nüchtern in Szene gesetzt von David Fincher.

Es ist die Frage aller Beziehungsfragen, hundertfach gestellt und meistens ohne befriedigende Antwort geblieben: „Was denkst du gerade?“ Nicht jeder würde seine Frustration darüber so drastisch schildern, wie es die Stimme aus dem Off zu Beginn von „Gone Girl“ tut. Während die Kamera auf den wohlgeformten Blondschopf von Rosamund Pike hält, spricht ein Mann davon, dass er diesen Schädel manchmal am liebsten aufbrechen würde, um die Gedanken herauslesen zu können. Dann kommt Pikes schönes Antlitz ins Blickfeld, ein Gesicht wie frisch erwacht, mit scheuen Rehaugen. Und die gesprochenen Worte bekommen etwas Unheimliches. Man weiß, dass das Gerede vom „Schädel aufbrechen“ im übertragenen Sinn gemeint war. Oder etwa nicht?

Man könnte es den Fincher-Touch nennen. David Fincher ist ein Meister des Spannungsaufbaus, wie er in Filmen wie „Sieben“, „Fight Club“ oder auch „Social Network“ gezeigt hat. Doch seine Spannung ist nicht der Hitchcock'sche „Suspense“, bei dem der Zuschauer darauf wartet, wann die Bombe unter dem Tisch wohl losgeht. In Finchers Filmen sind es die subtilen Verschiebungen zwischen dem, was der Zuschauer sieht, und dem, was er weiß, die an das Geschehen fesseln. Eine Unruhe schleicht sich ein, ein Grusel, der manchmal die enthüllende Auflösung mehr fürchten als herbeisehnen lässt.

Die Medien tappen in die Falle

Denn wer will schon Ben Affleck eines Mordes verdächtigen? Affleck verkörpert Nick Dunne, den Mann, dessen Stimme man zu Anfang hört. Obwohl Nick sich nicht von seiner besten Seite zeigt, wenn er am fünften Jahrestag seiner Hochzeit mit Amy (Rosamund Pike) am frühen Nachmittag whiskeytrinkend in einer Bar sitzt, sympathisiert man mit ihm. Er hat die Ausstrahlung des Unbedarften, seine Lässigkeit wirkt nicht arrogant, sondern eher hilflos. Schließlich weiß man, dass auch Pikes Rehaugen täuschen können. Als bekannt wird, dass Amy an eben diesem Hochzeitstag verschwunden ist, möchte man deshalb keinesfalls in dieselben Fallen wie die im Film dargestellten Medien tappen.

Im Gegenteil: Als Kinozuschauer fühlt man sich erhaben darüber, aus einem unpassenden Lächeln einen überzogenen Verdacht zu konstruieren. Schließlich bekommt man vorgeführt, wie ein unschuldiges Selfie missinterpretiert werden kann. Aber weshalb klingelt Nicks Handy immer wieder?

Mit „Gone Girl“ hat Fincher den gleichnamigen Roman von Gillian Flynn verfilmt, der Furore machte als ein Buch so voller überraschender Wendungen, dass mit jedem Kommentar dazu ein Spoiler droht. So viel aber kann man sagen: „Gone Girl“ spielt im von der Finanzkrise gezeichneten Amerika der Gegenwart. Nick und Amy hat es aus New York in eine Kleinstadt nach Missouri verschlagen. In der Großstadt gehörten sie zur elitären Schicht der Journalisten, die sich „Autoren“ nennen. Dann verloren sie beide ihren Job, und mit der Krebserkrankung von Nicks Mutter bot sich eine Gelegenheit, ohne Gesichtsverlust in die Provinz zu ziehen. Nick betreibt nun dort mit seiner Zwillingsschwester (Carrie Coon) eine Bar. Wie Amy sich vor ihrem Verschwinden die Tage vertrieb, enthüllt der Film erst nach und nach.

Flynn hat das Drehbuch zur Verfilmung selbst verfasst und dabei den Aufbau ihres Romans geradezu trotzig beibehalten: Während einerseits die Handlung streng nach „Tag x nach Amys Verschwinden“ fortschreitet, bietet ein Tagebuch Einblicke in die Zeit davor. Überraschende Enthüllungen gibt es auf beiden Zeitachsen. Am Ende steht eine „Auflösung“, die die Ausgangslage an Verwicklung noch übertrifft.

„Gone Girl“ ist ein Film von seltener Dichte, zusammengehalten vom raffinierten literarischen Erzählgerüst der Vorlage und einer absolut nüchternen Regie. Anders als in Finchers bisherigen Thrillern gibt es hier kein stimmungsvolles Verweilen. Eilig lösen sich die Szenen ab, es wird in einem fort geredet, argumentiert, artikuliert. Fast zu wenig Zeit bleibt dabei für die wunderbaren Nebendarsteller: Kim Dickens („Sons of Anarchy“) etwa verkörpert die zuständige Kommissarin mit irritierender Mischung aus Besonnenheit und Beeinflussbarkeit. Tyler Perry, im US-Kino als Mann in Frauenkleidern („Madea“) bekannt geworden, spielt einen hochprofessionellen Rechtsanwalt, der es sich leisten kann, amüsiert zu sein. Und Neil Patrick Harris („How I Met Your Mother“) hält als verschmähter Liebhaber jede Sitcom-Anmutung fern. Trotzdem gehört „Gone Girl“ ganz den beiden Hauptdarstellern: einer fast bedrohlich vielseitigen Pike und einem Ben Affleck, dessen notorische Trägheit vor der Kamera noch nie so gut zur Geltung kam wie hier.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.10.2014)

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