Sandrine Bonnaire: „Ich habe es gemacht, um anzuklagen“

Sandrine Bonnaire
Sandrine Bonnaire(c) Die Presse (Teresa Zötl)
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Sandrine Bonnaire prangert in einem Film über ihre autistische Schwester psychiatrische Gewalt an. Im "Presse"-Interview meint sie: "Diese Geschichte ist so tragisch, dass man sie erzählen muss."

Sie zählt zu den beliebtesten französischen Filmstars, nun läuft im Wiener Gartenbaukino die erste Regiearbeit der 41-Jährigen: In "Elle s'appelle Sabine" („Sie heißt Sabine“) begleitet Sandrine Bonnaire ihre drei Jahre jüngere autistische Schwester durch den Alltag in einem Heim, konfrontiert diese Bilder mit Filmaufnahmen, die vor Sabines fünfjährigem Aufenthalt in der Psychiatrie entstanden – und lässt den Zuschauer erschüttert mit einer Frage zurück, die auch „Die Presse“ Sandrine Bonnaire stellte: Was passierte dazwischen?

Die Presse: Was löst dieser Film im Nachhinein in Ihnen aus – fühlen Sie sich erleichtert?

Sandrine Bonnaire: Erleichtert, ja, weil ich mich ausgedrückt habe, erleichtert um der Familien willen, nicht nur unserer. Viele Familien sagen mir, jetzt trauen wir uns, uns zu outen, wir müssen uns nicht mehr schämen. Ich glaube, der Blick der Menschen hat sich verändert. Leute sagen mir, sie sehen Autisten nun anders, ohne Angst.

Was hat den Ausschlag gegeben, um mit der Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen?

Bonnaire: Ich sagte mir, diese Geschichte ist so tragisch, dass man sie erzählen muss. Ich habe es gemacht, um anzuklagen, ein System anzuklagen. Dafür durfte es nicht nur meine persönliche Geschichte sein, das wäre nicht stark genug gewesen. Ich habe auch sehr darauf geachtet, dass es intim bleibt, nicht voyeuristisch wird.

War sich Ihre Schwester Sabine dessen bewusst, dass sie für ein großes Publikum gefilmt wurde?

Bonnaire: Ja. Wir haben eine Versammlung einberufen, die Psychiater, den Leiter des Pflegezentrums, alle Eltern und eben Sabine. Ich hatte sie persönlich gefragt, sie hat Ja gesagt, dann haben wir mit den Psychiatern gesprochen, und die waren ebenfalls einverstanden. Außerdem habe ich Sabine schon früher gefilmt, sie war das gewöhnt. Und sie merkte, dass das ein Projekt war, bei dem sie sich nützlich machen könnte.

Der eigentliche Schock für den Zuschauer ist die Diskrepanz zwischen den Filmaufnahmen vor und nach Sabines Aufenthalt in der Psychiatrie. Sie ist nicht wiederzuerkennen. Wann haben Sie die Veränderung bemerkt?

Bonnaire: Sehr schnell. Innerhalb von sechs Monaten hat sie sich verändert – wegen der Medikamente. Sie begann zu zittern, zu sabbern. In der Klinik war sie allein eingesperrt in einem Zimmer, da wurde sie immer gewalttätiger, immer depressiver...

War sie auch vorher schon gewalttätig?

Bonnaire: Sie wurde es, als unser älterer Bruder starb – sie war Zeuge, sie war dabei, als er starb. Diese Erschütterung, die Trauer konnte sie nie bewältigen. Und Autisten äußern ihre Gefühle anders, Sabine wurde gewalttätig. Was folgte, war ein Teufelskreis. Wir brachten sie in die Klinik, dachten uns, es ist nur für zwei Wochen. Und dann sagt man Ihnen, Ihre Schwester ist extrem gefährlich – und Sie glauben es! Sie sagen sich, es ist die Krankheit. Wir glaubten also, dass es notwendig ist – aber immer mit einem Zweifel im Hinterkopf. Also suchten wir parallel dazu nach einem Heim für sie – aber in Frankreich gibt es da so gut wie nichts. Und so blieb sie fünf Jahre in der Klinik.

Wie haben die Kliniken, in denen Sabine interniert war, auf den Film reagiert?

Bonnaire: Einige Ärzte wollten nicht mit mir sprechen, denjenigen, die dazu bereit waren, habe ich nur eine Frage gestellt: „Haben Sie sich geirrt?“ Sie sagten: „Nein, und wenn doch, hätten wir uns alle geirrt, denn es gab Besprechungen zwischen Ärzten und Psychiatern, alle meinten, für Sabine gebe es keine andere Lösung als die Klinik.“ Sie sei extrem gewalttätig gewesen. Es gab Psychiater, die sagten: „Das ist ein Film gegen die Psychiatrie. Wir fühlen uns attackiert.“ Die anderen allerdings – und das war der größere Teil – sagten: Dieser Film zwingt uns zum Nachdenken, er bringt uns dazu, besser zu arbeiten.

Was ist in dem kleinen Pflegeheim, in dem Sabine nun lebt, anders?

Bonnaire: Sie nimmt nur die Hälfte der Medikamentendosis. Wenn sie sehr nervös ist, geht man mit ihr spazieren, sie ist in Verbindung mit der Außenwelt, sie hat ein Leben für sich, wird respektiert.

Hat Sie bei Ihrer Arbeit ein Film inspiriert?

Bonnaire: Nicht inspiriert, aber beeindruckt hat mich „Family Life“ von Ken Loach, er zeigt, wie man versucht, Menschen verrückter zu machen, als sie sind. Überforderte Eltern stecken ihre Tochter in die Psychiatrie und schaffen es nicht mehr, sie wieder herauszuholen. Am Ende ist die Tochter wirklich verrückt. Was mich so erschüttert hat, war, dass Loach von der Psychiatrie der 70er-Jahre erzählt – aber wir haben dieselbe Psychiatrie erlebt! Es ist dieselbe Gewalt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.09.2008)

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