„Titos Brille“: Filmische Spurensuche

(c) Stanislav Jenis
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Adriana Altaras ergründet in einem Dokumentarfilm die Geheimnisse und Legenden ihrer Familie.

Die Brille von Marschall Tito ist für Adriana Altaras ein Sinnbild für die Privatmythologie ihrer Familie: Während des Zweiten Weltkriegs, so hieß es in ihrem Elternhaus, war der Vater Leibarzt des damaligen Partisanenführers und hat vor einem entscheidenden Kampf heldenhaft dessen Brille repariert. Später dämmerte der Tochter, dass Tito zu der Zeit gar keine Brille trug, und seitdem ist ihr eines klar: „Jede Familie hat gleich viele Legenden wie Geheimnisse. Die Legenden werden immer wieder erzählt, damit die Geheimnisse im Dunklen bleiben.“ Auf die Suche nach diesen Geheimnissen begibt sich die Regisseurin und Schauspielerin Altaras in der Doku „Titos Brille“, einer filmischen Ergänzung ihrer gleichnamigen literarischen Familienforschung.https://cms.getoctopus.com/M1/T17/createArticle.do

Nach dem Tod ihrer Eltern offenbart sich deren Wohnung in Gießen als Fundus vergessener Geschichten: Fotografien, Dokumente und Artefakte aller Art weisen verschiedenste Wege in die Vergangenheit. Von Gießen verschlägt es die Mittfünfzigerin in ihre Geburtsstadt Zagreb, später auch nach Slowenien und Italien. Aus den gesammelten Eindrücken und Begegnungen webt Altaras' langjährige Freundin Regina Schilling hinter der Kamera einen familiengeschichtlichen Fleckerlteppich, der in seiner Buntscheckigkeit zwar kaum Aufschluss gibt über größere historische Zusammenhänge. Aber das Ergebnis ist ein anregender Blick auf die verschlungenen Pfade der jüdischen Diaspora Ex-Jugoslawiens.

Unwort Vergangenheitsbewältigung

Altaras erweist sich dabei als scharfzüngige Kommentatorin, die sich kein Blatt vor den Mund und selbst potenziell beklemmende Entdeckungen wie die auf farbenfrohem Super-8-Film festgehaltenen Urlaubsaffären ihres Herrn Papa mit Humor nimmt. Doch bei aller Lockerheit (und manchmal gibt es davon fast zu viel) hört man doch ab und zu einen bitteren Unterton mitschwingen: Einen Ton der Reue, die Eltern nicht richtig gekannt, sie nicht näher nach den finsteren Kapiteln ihres Lebens befragt zu haben – etwa dem KZ-Aufenthalt der Mutter. Ob dies der Grund sei, warum Altaras' Generation von Dibbuks (im jüdischen Volksglauben die Gespenster der Toten) heimgesucht werde? Aber wie der Film weiß, ist Vergangenheitsbewältigung ohnehin ein Unwort: Ein emotionales Erbe könne man nicht einfach „abschlagen wie Schulden vor Gericht“. Um damit leben zu können, führt „Titos Brille uns vor“, muss man sich weiter damit auseinandersetzen – und da ist kein noch so mickriges Andenken zu unterschätzen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.03.2015)

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