Die Erziehung zur Killermaschine

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Mit "Beasts of No Nation" greift Netflix die Kinobetreiber an. Die differenziert erzählte Parabel über Entmenschlichung und Indoktrinierung wird als Oscar-Kandidat gehandelt.

Bei den Filmfestspielen in Cannes hatte Netflix angekündigt, man werde künftig Produktionen zeitgleich in den Kinos und online starten. Jetzt ist es soweit: Das Kindersoldaten-Drama „Beasts of No Nation“, im März von Netflix erworben, steht den 70 Millionen Abonnenten des Videoportals seit Freitag zur Verfügung, parallel lief es in den USA und in Großbritannien in einigen wenigen Lichtspielhäusern an. Die großen Multiplexketten boykottieren den Film. Auch in Deutschland und Österreich hat sich noch kein Verleih gefunden. Das simultane Online-Angebot wird von den meisten Kinobetreibern als Angriff auf ihr Geschäft gewertet. Den Konzern selbst dürfte das kaum bekümmern: In diesem Fall geht es ihm eher um Prestige als um zusätzliche Kinoeinnahmen.

Uraufgeführt wurde „Beasts of No Nation“ beim Filmfestival von Venedig. Abraham Attah, der den jungen Agu verkörpert, wurde mit dem Marcello-Mastroianni-Preis ausgezeichnet. Die Lido-Premiere signalisiert Qualität – wie vieles an dem Projekt: Regisseur Cary Fukunaga hat für „Sin nombre“ und die Inszenierung der ersten „True Detective“-Staffel Lorbeeren geerntet, das Thema seiner Adaption des Debütromans von Uzodinma Iweala ist betont brisant, der Brite Idris Elba (spätestens seit „The Wire“ in der Schauspiel-Oberliga angekommen) konnte für eine wesentliche Rolle gewonnen werden.

Bürgerkrieg im Heimatdorf

Die Handlung folgt dem jungen Agu (Abraham Attah), der in einem dezidiert unspezifischen afrikanischen Land lebt (gedreht wurde in Ghana). Seinem kindlichen Alltagsidyll wird er jäh entrissen, als der Bürgerkrieg in sein Heimatdorf einbricht und einen Großteil seiner Familie in den Tod reißt.

Auf der Flucht gerät Agu in die Fänge eines von seinen Untergebenen nur „Commandant“ genannten Splittergruppenoffiziers, der sich als strenge, aber joviale Vaterfigur seines überwiegend minderjährigen Bataillons gebärdet (eindringlich und trotz künstlichem Akzent nicht effekthascherisch: Elba). In dessen mehr als fragwürdiger Obhut erfährt der Junge eine Erziehung zur gnadenlosen Killermaschine.

Parabelhaft führt „Beasts of No Nation“ aus Agus Perspektive durch die Etappen von Indoktrinierung und Entmenschlichung. Dabei bleibt der Film bis auf wenige Szenen (die erste Hinrichtung als Schock-Spektakel in Zeitlupe, ein Drogentrip als Farbrausch) verhältnismäßig nüchtern, sogar differenziert. Er verteufelt nicht einmal den in vielerlei Hinsicht monströsen Kommandanten. Dieser steht selbst im Dienst eines opportunistischen Oberbefehlshabers, und zwei Auftritte von Industriestaatsangehörigen stellen die erste Welt als distanzierten Beobachter und Nutznießer der blutigen Konflikte bloß. Den Film politisch zu nennen, wäre allerdings eine Übertreibung – dafür ist seine Antikriegs-Botschaft viel zu allgemein.

Und Universalität ist für Netflix als Plattform mit globaler Kundschaft wichtig. Bekanntlich richtet sich die Firma beim Ankauf von Rechten und Lizenzen ja nach Sichtungsstatistiken, um den Erfolg von Stoffen abschätzen zu können. Fast scheint es, als hätten sie bei „Beasts of No Nation“ ähnliche Mittel im Hinblick auf die Oscars angewandt: Elba wird bereits als Nebenrollen-Favorit gehandelt, auch das Drama selbst hätte Chancen auf eine Statuette. Noch bleibt das Primat der Kinoleinwand in Hollywood allerdings unerschüttert: Zugelassen zu den Oscars ist „Beasts of No Nation“ nur, weil er in Los Angeles County regulär im Kino läuft.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.10.2015)

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