"Where to Invade Next": Wenn schon Propaganda, dann so

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In "Where to Invade Next" reist Michael Moore durch Europa und zeigt sich unerwartet von seiner optimistischen Seite. Das tut dem Film gut.

Eine der Gretchenfragen des dokumentarischen Kinos ist jene nach der Objektivität des Filmemachers. Inwieweit darf sich dieser selbst in seine Arbeit einbringen? Die Direct-Cinema-Bewegung der Fünfziger und Sechziger, lange Zeit stilbildend im amerikanischen Dokumentarfilm, betrieb eine strenge Politik der Nichtintervention: Wie eine Fliege an der Wand sollte man das Geschehen beobachten, im Idealfall würden die Dinge ihren Lauf nehmen, als wäre die Kamera gar nicht da. Dass dies ein frommer Wunsch bleiben muss und die Konstruktion einer subjektiven Wirklichkeit spätestens bei der Auswahl des Bildausschnitts beginnt, wussten die Direct-Cinema-Regisseure ebenso wie viele ihrer Zuschauer – trotzdem hielten sich die Tugenden Nüchternheit und Zurückhaltung lange Zeit als Grundpfeiler einer sozial oder politisch engagierten Dokumentarfilmform. Und dann kam Michael Moore.

Moores Regiedebüt „Roger & Me“ (1989) dreht sich um eine Fabrikschließung des Autoherstellers General Motors in seiner Heimatstadt Flint, Michigan, die 30.000 Menschen ihren Job kostete. Der größtenteils unabhängig produzierte Film warf das Regelwerk seiner Altvorderen schwungvoll über Bord: Moore machte sich und seine Suche nach dem General-Motors-Chef, Roger Smith, zum Ankerpunkt eines empörten, personalisierten Kinopamphlets voll sardonischen Humors und herber Kontraste, das sein Herz auf der weit ausgestreckten Zunge trug. Der beachtliche Erfolg des Films etablierte Moore als Marke, auch „Bowling for Columbine“ und „Fahrenheit 9/11“ wurden zu Kassenschlagern, was Moore gegen Kritiker seines polemischen Stils ins Feld führte: Alte Dokus wären „bittere Medizin“, die keiner schlucken wollte, er hingegen würde Millionen aus allen Schichten erreichen – ein Argument, das nur greift, wenn man Kunstproduktion und Botschaftseifer gleichsetzt.

Boulevardeske Beweisführung

Diese Propaganda-Programmatik polarisiert, und daran wird sich auch nach „Where to Invade Next“, Moores erstem Kinofilm seit sechs Jahren, nichts ändern – zumal er dessen Zentralschmäh schon in „Sicko“ (2007) verwendet hat. Damals staunte er über die Rundum-sorglos-Gesundheitsversicherung der Europäer und wünschte sie sich nach Amerika. Diesmal tingelt er mit USA-Fahne im Gepäck durch die alte Welt, „marschiert“ in diversen Ländern ein und pickt sich die Rosinen aus Wohlfahrtsstaat und Sozialpartnerschaft. Und siehe da, Europa ist ein Paradies! In Italien, wo die Reise beginnt, gibt es neben gutem Essen und gutem Sex auch bezahlten Urlaub, ein 13. Monatsgehalt und lange Mittagspausen – kein Wunder, dass die Arbeiter bei Ducati und Lardini strahlen. „Sind sie zufrieden?“, fragt Moore eine ältere Dame am Fließband. Sie bejaht.

Dann geht es weiter nach Frankreich, wo gesundes Schulessen US-Kantinen alt aussehen lässt, nach Finnland, wo geringer Lerndruck bessere Bildung zeitigt, und nach Norwegen, wo ein rehabilitationsorientiertes Strafsystem die Rückfallquote gering hält. Deutschland? Ein Musterbeispiel für gelungene Vergangenheitsbewältigung. Europa erscheint in Moores selektiver Wahrnehmung als utopischer Sehnsuchtsort, an dem sich die Zivilisation von ihrer besten Seite zeigt.

Die boulevardeske Beweisführung und die halblustigen Witzeleien sind altbekannt – nichtsdestoweniger ist „Where to Invade Next“ der vielleicht sympathischste Film des Regisseurs, weil er den Zynismus seiner Finanzkrisenabrechnung „Capitalism: A Love Story“ gegen ansteckenden Optimismus eintauscht, den Glauben an eine bessere Welt. Wo dieser herrührt, ist nicht schwer zu erraten: Obwohl sein Name nie erwähnt wird, ist „Where to Invade Next“ im Kern ein zweistündiger Werbespot für Bernie Sanders, dessen US-Präsidentschaftskandidatur Moore offen unterstützt. Nahezu alle Wahlprogrammpunkte finden in Moores Film ihre europäische Entsprechung – vom Recht auf freie Bildung bis zur Entkriminalisierung von Drogen. Zuletzt spannt das Narrativ sogar einen patriotischen Bogen: Die Ideen, die in Europa umgesetzt werden, hatten ihren Ursprung in den USA! Mit differenziertem dokumentarischem Kino hat das nur wenig zu tun – aber wenn schon Propaganda, dann so.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.02.2016)

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